Aus unserer Unbeweglichkeit betrachten wir den Bewegten. Nicht mal mehr eine 40-minütige Autofahrt von Düsseldorf nach Bochum und zurück ist drin – und vonnöten. Das Bangen gilt nur der Stabilität der online-Verbindung, wo doch so viele andere Sicherheiten weggebrochen sind.
Der Einzelne (am Bildschirm) ist ein Kopf ohne Welt, hat die Welt im Kopf oder, wenn’s schlecht zugeht, eine kopflose Welt vor Augen. Bei der Streaming-Premiere im Schauspielhaus Bochum beobachten wir von weitem, sogar wenn die Kamera auf die Planken der rutschigen Bühnenschräge heranfährt, Peer Gynt beim Gang durch seine Geschichte: seinem „walking with destiny“, wie Winston Churchill sagte.
So könnte er aussehen! Ein widerspenstig-wirrer blonder – auch übergroßer – Lockenkopf mit weit geöffneten Kulleraugen, dessen Gestalt im Nirgendwo schwebt. Dieser grob skizzierte Peer Gynt würde von Paul Klee stammen. Müsste man in diesen Tagen, die sich schon zu mehr als einem Jahr runden, Ibsens Maulhelden, Weltenbummler, Teufelskerl, Glücksspieler und schließlich Heimkehrer in den Schoß der mütterlichen Frau nicht von Walter Benjamins „Angelus Novus“ her verstehen, der seine Figur in der Zeichnung von Paul Klee vorgebildet fand? „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert…“ – Peer, nicht nur der Betrachter, sondern selbst Verursacher von Katastrophen. Sein Leben – ein Trümmerhaufen.
Mann? Frau? Kind?
Peer! Was für ein Peer? Ibsens Held als Prototyp des männlichen Projekts Egomanie, Machtstreben und Rücksichtslosigkeit wird in Bochum von einer Frau, der Schauspielerin Anna Drexler, verkörpert. Nicht so fern von der Klee-Fantasie. Kein Widerspruch und keine Betonung des geschlechtlichen Prinzips durch sein Gegenteil. Das – etwa im Ausprobieren und Präsentieren viriler Haltungen aus der Differenz – tut hier wenig zur Sache. Die Frage, ob ‚man’ vergessen machen soll oder kann, wer gewissermaßen hinter der Maske steckt, oder ob wir die Zeichen der Persönlichkeit und des Charakters neu zu lesen lernen mit der Textur des ‚anderen’ Körpers, diese Frage streicht Anna Drexler einfach durch. Es kümmert sie nicht. Sie tut’s einfach.
Vielleicht taugt dann Peer Gynt als Chiffre für das ungefestigte Ich, wobei seine Häutungen nicht unbedingt als produktive Ich-Techniken gelten können. So jedenfalls würde die Gender-Zuschreibung offener und weniger polarisierend gemeint sein können. Aber mit der Ich-Problematik und Identitätsübersteigerung fangen Dušan David Pařízek und seine Hauptdarstellerin auch wenig an.
Was jedoch haben Mann und Frau gemeinsam?: das Kind-Sein bzw. Kind-gewesen-Sein. „Wer bist Du? – Ich selbst“, fragt Peer / Drexler und beantwortet es sich im Kampf mit sich selbst auf der leeren Spielfläche, die die Bildregie wie eine Hochhausfassade steil vor uns aufrichtet.
Kapuzenshirt und Pop-Poesie
Der Bochumer Norweger Peer Gynt ist einer für das schwedische Greta Thunberg-Zeitalter: eine Veranstaltung eifernder, unartiger, rührend junger und noch mehr ihre Jugend kultivierender, jede erwachsene Großmacht mit einem „Fuck the System“ aushebelnder Antiautoritäten, eingekuschelt im Kapuzenshirt wie in dem Wohlgefühl zu heilender Welt, während die Musiker-Sänger-Darsteller es klingen und klingeln und mit düsterer Pop-Poesie raunen, rocken, rappen (auch mal mit einem Faust-Gretchen-Zitat), swingen und hallen lassen.
Das Purzelbaum schlagende Energiebündel Anna Drexler – zunächst in weißem Sweatshirt, schwarzen Hotpants und Netzstrümpfen – schreit mit dem (hinzugefügten) Anfangsmonolog Anspruch, Notwendigkeit und Qual des Alleinseins heraus. Und setzt im zweiten Teil virtuos als Moneymaker über alle Monopoly-Felder zugleich und die Intellektuellen-Brille immerhin, jedoch höchstens als Requisit auf. Die Ich-Krisen in Ibsens Episoden-Reigen und der welthaltige Prozess des Ich-Zerfalls schwinden hier gegenüber der vordringlichen Programmatik: entertaining Peer, auch mal als Lachnummer auf Rheinisch. Das Empfinden der „Solitude“ und anderer Emotionen wird bevorzugt an Song-Nummern delegiert.
Das Siebener-Ensemble spielt lässig und smart aus der Hüfe heraus, alles Sagenhafte wie das Troll-Unwesen ins Theater-Reich von Gestern abschiebend und statt dessen gründlich Gegenwart und radikale Kunst-Realität behauptend. In dieser Gegenwart verklagt die Stimme Afrikas (Mercy Dorcas Otieno) die 500-jährige europäische Kolonialgeschichte, somit auch den weißen alten Mann Peer, und verkündet das „rising up“ des schwarzen Kontinents (und fordert ungesagt zwar, aber gewiss auch die Rückgabe der Benin-Bronzen).
Und in ihr ist die Solveig der Anne Rietmeijer nichts weniger als ein wartendes Kammerkätzchen, sondern eine emanzipiert Autonome, die Edvard Griegs Lied-Romantik hinwegjault und sich in Versen von der eigenen Rolle los- und freispricht (was aber auch eine Art von Kapitulation ist) und Peer von seinem Mann-Sein zu erlösen trachtet. Ist das schon die Quintessenz des Dramas? Peer aus seiner Macho-Haut zu retten. – Worauf läuft es hinaus mit uns, auf welchen Sinn hin wappnen wir uns für das Leben? Diese Überlegung bleibt in Bochum seltsam ausgespart.
Zeit ist immer Frist. Das spürt auch Peer. Das letzte Viertel, Peers Schuld- und Schiffs-Heimkehr und die Begegnung mit dem Knopfgießer (Konstantin Bühler), erlaubt sich das Allegorische als Auftritt zweier Existential-Clowns im Trenchcoat, wobei Anna Drexler störrisch auf ihrer Spiellust beharrt. Und weil schon Goethes „Faust“ durch die Aufführung spukt, lässt sich sagen: Anders als Gretchen im Kerker ist dieser Peer nicht gerettet, sondern gerichtet.
Nächste online-Aufführung am 15. Mai 2021
https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/6350/peer-gynt