Das Private und das Politische lassen sich nicht trennen, niemals. Eine Aussage wie diese klingt wie ein Allgemeinplatz. Viel zu oft wurde sie schon verkündet, ohne dass ihre konkrete Bedeutung für jeden einzelnen wirklich sichtbar geworden ist. Der Satz ist eine Selbstverständlichkeit, der es an Gewicht fehlt. Es ihm endlich zu verleihen, das ist ein entscheidender Aspekt des großen Projekts, dem sich Nuran David Calis mit seinen dokumentarischen Theaterarbeiten verschrieben hat. Schon 2014 bei »Die Lücke«, seiner ersten Inszenierung in Stefan Bachmanns Ära am Schauspiel Köln, hat er nicht nur von dem Bombenattentat auf der Keupstraße berichten lassen. Seine Performer*innen hatten keine Rollen, sie traten als sie selbst auf und sprachen von ihren eigenen Erfahrungen, ihren persönlichen Fragen und ihren privaten Haltungen. Es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Calis hat mit dieser Arbeit den Opfern eine Stimme gegeben und in Gestalt der beteiligten Schauspieler*innen die blinden Flecken der Mehrheitsgesellschaft aufgedeckt.
Diesem Prinzip bleibt Calis auch in »Mölln 92/22« treu, seiner neuesten theatralen Recherche zu den rechtsradikalen Gewaltakten und Morden, die das Leben in Deutschland seit mehr als 40 Jahren begleiten. Es geht um den im November 1992 von zwei Neo-Nazis verübten Brandanschlag, bei dem Bahide Arslan, ihre Enkelin Yeliz Arslan und ihre Nichte Ayşe Yilmaz ihr Leben verloren haben. Doch bevor dieser Terrorakt konkret in den Fokus rückt, sprechen Kristin Steffen, Stefko Hanushevsky und Ismail Deniz erst einmal über ihre Erfahrungen mit Rassismus und Rechtsradikalismus in den 1990er Jahren. Ihre Erzählungen werden dabei zu einem Spiegel, in dem sich eine Gesellschaft offenbart, die rassistische Gewalt meist verleugnet oder verharmlost.
Realitätsschock
So berichtet Steffen von einem Vorfall im Schulbus, bei dem die einzige schwarze Schülerin tätlich angegriffen wurde. Trotzdem ist sie damals nicht auf die Idee gekommen, dass es in ihrem Umfeld Rassismus gab. Auch Stefko Hanushevskys Erinnerungen gehen in eine ähnliche Richtung. Er wusste zwar um die Nazi-Vergangenheit der oberösterreichischen Provinz, aber zu erfahren, dass seine Geburtsstadt Linz ein Zentrum österreichischer Neo-Nazis war, kam für ihn dennoch einem Schock gleich. Nur der in Dinslaken-Lohberg aufgewachsene Ismail Deniz genoss nie den Luxus politischer Illusionen. Straßenkämpfe zwischen Skinheads und Türken waren in seiner Jugend Alltag. Er und seine Eltern waren sich immer bewusst, dass ihr Leben fortwährend bedroht war und immer noch bedroht wird.
Die persönlichen Erinnerungen der drei Performer*innen schaffen einen Resonanzraum, nicht nur für die Geschichte der Familie Arslan, die auch 30 Jahre nach dem Anschlag noch in Mölln lebt und für einen anderen gesellschaftlichen Umgang mit rassistischen Gewalttaten und Morden kämpft. Auch die Videointerviews mit Politikern wie Cem Özdemir und Omid Nouripour, die auf Leinwände projiziert werden, bekommen durch die Erzählungen und Kommentare der Spieler*innen eine andere Dimension. Das persönliche Erleben und die gesellschaftlichen Entwicklungen bedingen einander in Nuran David Calis‘ Sicht auf die Bundesrepublik. Deswegen sind die Videogespräche mit den Überlebenden des Anschlags so zentral. Sie organisieren seit 2013 ihre eigenen Gedenkveranstaltungen in Mölln, weil die Stadt ihr Leid immer wieder für sich instrumentalisiert hat.
In den großen politischen Gedenkveranstaltungen, die an die Opfer rechtsextremen Terrors erinnern, geht es letztlich immer um eine Beruhigung der Mehrheitsgesellschaft. Die Opfer sollen sich mit denen versöhnen, die nur zusehen und nicht eingreifen. Gegen diese Mechanismen kämpft Calis mit seinen Theaterarbeiten an. Am Ende fällt der entscheidende Satz: »Erinnern heißt verstören.« In diesem Sinne ist »Mölln 92/22« ein zutiefst verstörender Abend, der einen eben nicht nur an die Morde vor 30 Jahren erinnert, sondern mit einer Wirklichkeit konfrontiert, in der neo-nazistische Gewalt weiterhin ungehindert gedeihen kann.
»Mölln 92/22«, 14., 19., 27. Mai, Depot 2