TEXT: GUIDO FISCHER
Vier Mal musste sich Vladimir Horowitz aus dem Konzertbetrieb zurückziehen, um seine Depressionen zu kurieren. Sobald er sich aus einem Stimmungstief herausgearbeitet hatte, wollte er beweisen, dass er es immer noch könne: und zwar mit seinem Paradestück, dem 3. Klavierkonzert von Rachmaninow. Dass dieses Werk Segen und Fluch zugleich sein kann, weiß auch David Helfgott.
Wie sein Vorbild Horowitz sorgte der 1947 im australischen Melbourne geborene Pianist früh für Furore mit dem als »Elefantenkonzert« bezeichneten Virtuosenklassiker. Doch je brillanter er sich ins Oktavengewimmel stürzte, desto größer wurde der eigene Erwartungsdruck, es beim nächsten Mal mindestens so atemberaubend zu meistern. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Psycho-Big-Bang eintreten würde. Mitte der 1970er Jahre erlitt Helfgott bei einem Auftritt in London einen Nervenzusammenbruch.
Urplötzlich war für das Riesentalent nichts mehr wie zuvor. Helfgott musste sich für Jahre in psychiatrische Behandlung begeben. Das Klavier war für ihn tabu. Dies alles, bis hin zu seiner Genesung und dem Comeback, ist inzwischen Kinogeschichte.
1996 hat Regisseur Scott Hicks das Leben von David Helfgott in »Shine« mit Geoffrey Rosh in der Hauptrolle und Armin Mueller-Stahl als Vater, der den Sohn tyrannisch zum Wunderkind dressieren will, verfilmt. Prädikat: »Oscar«.
Wem der eigene Leidensweg in Leinwandbreite derart vor Augen geführt wird, hätte daran wieder zerbrechen können – oder konnte sich in der Anschauung kräftigen. So Helfgott. »Shine« war für ihn rückblickend ein Glück; er hatte da bereits schon wieder in vielen Städten gastiert, darunter in London, wo der 23-Jährige mit dem Rachmaninow-Konzert triumphiert und den Grundstein für seine Karriere gelegt hatte. Dank des Films war er nun populär und bekam, wie Helfgott in einem Interview bekannte, das verloren gegangene Selbstwertgefühl zurück. Die Yellow Press riss sich um das dezent wahnsinnige Genie, als das »Shine« ihn porträtierte. Die großen Konzertsäle öffneten sich ihm. Selbst der Soundtrack nahm die Klassik-Charts: mit Rachmaninows 3. Klavierkonzert und Helfgott als Solist.
Der Trubel hat sich längst gelegt. Seinem teuflischen Lieblingsstück ist der 65-Jährige treu geblieben. Entsprechend steht es – neben Solo-Werken von Bach und Beethoven – im Zentrum seines einzigen NRW-Konzerts, das er mit den Stuttgarter Symphonikern unter Matthias Foremny gibt. Ebenso flink und treffsicher sein Spiel weiterhin funktioniert, verfolgt er unbeirrt einen Interpretationsstil, der sich vorsichtig als unkonventionell bezeichnen ließe. Helfgott haushaltet nicht mit seinem markant extravaganten Zugriff im Dynamischen und in den Tempi. Sein Murmeln, mit dem er sich oft selbst begleitet, erinnert ein wenig an die Marotte eines anderen großen, gleichfalls mit Depression belasteten Pianisten: Glenn Gould. Doch besitzt Helfgott im Ausdruck eine Zartheit und Empfindsamkeit, die aus monströsen Spieltechnikern fühlende Lebewesen macht.
Live löst Helfgotts unverwechselbare Handschrift ungebrochen Begeisterung aus. In den CD-Markt scheint er damit nicht mehr zu passen. Seine letzten Einspielungen für einen Multi der Branche liegen schon mehr als zehn Jahre zurück, weshalb der ehemalige Student eines Liszt-Schülers seine jüngsten Aufnahmen im Selbstvertrieb herausbringt.
Wer etwa Helfgotts letzte CD »With Love« hört, auf der er Höchstschwierigkeiten von Mili Balakirew, Louis Moreau Gottschalk und eben auch Liszt meistert, fühlt sich an ein Wort des Dirigenten Wilhelm Keitel erinnert, der nach einem Konzert mit Helfgott sagte: »David macht keine Musik – er ist Musik«.
12. Mai 2012, Konzerthaus Dortmund. www.konzerthaus-dortmund.de