Die vier Tänzer*innen werfen sich von innen gegen die Kubus-Stangen, schwingen an ihnen entlang, stürzen ab, versuchen es erneut. Wie Gefangene, die mit aller Macht ein Entkommen durchexerzieren. Dann probieren sie es von außen, geben sich mit ihren Aus- und Anschlägen Signale, auf eine Aktion folgt die Reaktion. Als körperliche Impulsgeber spielen sie miteinander, testen aus, wohin ihre improvisierten Bewegungen führen könnten. Sie agieren in der Gruppe, als Paare, ohne sich tatsächlich zu berühren. Gerda König beobachtet die Szene aus verschiedenen Blickwinkeln, ihre Rollstuhlreifen quietschen in der Stille auf dem Tanzboden. Sie gibt wenige Anweisungen, hakt ab und zu ein, spinnt einen möglichen choreografischen Faden weiter.
Dass eine der Tänzerinnen eine Beinprothese trägt, nehme ich erst in einer der kurzen Proben- und Denkpausen wahr. Oder dass die Bewegungen einer anderen etwas zurückhaltender, etwas vorsichtiger sind – weil sie Rheuma hat, wie ich später erfahre. Ihr Probenprozess ist ein Miteinander, ein gemeinsames Suchen und Erarbeiten, ein körperliches Herantasten an Stimmungen und Situationen, die erzählt werden wollen. So arbeite sie eigentlich immer, meint Gerda König im Gespräch nach der Probe. Um ein Objekt als Energieträger werde improvisiert – hier sind es der Kubus und die roten Schnüre, die an ihm und in ihm befestigt sind. »Ich arbeite nicht mit Vorgaben, das fände ich nicht interessant. Das, was von den Tänzern kommt, ist so viel. Das könnte ich auch gar nicht.«
Choreografin Gerda König leitet seit 1995 in Köln die DIN A 13 tanzcompany, Deutschlands erste mixed-abled Kompanie. Auch international gibt es bislang nur wenige Ensembles, in denen Tänzer*innen mit und ohne körperliche Behinderung gemeinsam arbeiten. Zurzeit proben sie in der Spielstätte Barnes Crossing im Kölner Süden ihre neue Arbeit. Thema ist die Farbe Rot, die immer mit extremen Gefühlen verbunden sei, sagt Gerda König. Ekstatische Liebe, Revolution, Macht, Aggression, Wut sind Begriffe, die ihr spontan dazu einfallen. Oder die Warnung Stop! Rot sei immer eine Signalfarbe. In ihrer Inszenierung will die Choreografin mit ihren Tänzer*innen Extreme rein physisch erforschen: Wo ist der Kipp-Moment? In den vergangenen Jahren hat König in ihren Choreografien viel mit Video gearbeitet, (tanz)theatrale Bilder erzählt. In ihrer neuen Arbeit reduziert sie alles wieder, konzentriert sich auf Bühne und Licht, auf Körper und Physis.
Eigentlich wollte Gerade König Psychologin werden, aber vor mehr als 30 Jahren, während ihres Studiums, sah sie eine Tänzerin, die dann doch alles veränderte. Es war in Bregenz, bei einem Workshop, den Alito Alessi leitete. Der US-amerikanische Choreograf ist ein Pionier des mixed-abled Tanzes. Er entwickelte die Tanz- und Bewegungsmethode DanceAbility, bei der es um eine gemeinsame Bewegungssprache geht, die niemanden ausschließt. »Jeder, der atmen kann, kann tanzen«, sagt Alessi. In diesem Bregenzer Workshop »gab es eine Frau, die eine schwere Spastik hatte, sie lag mehr im Rollstuhl und alle Extremitäten haben sich bewegt. Ich dachte, wow, ist die mutig, wie soll denn das gehen?«, erinnert sich König. Heute, im Rückblick erkennt sie, wie internalisiert damals selbst ihr Denken war. »Und dann, im Workshop bewegte sie sich so irrsinnig, dass alle Tänzer, und vor allem die Profis, mit ihr arbeiten wollten.« Alito habe gefragt, ob irgendjemand hier im Raum sei, der sich so bewegen könne wie diese Frau. Für Gerda König stellten sich da die Fragen neu: Was ist Tanz? Was ist Perfektion? Was ist Schönheit? Ein zentraler Moment in Gerda Königs Leben, der ihr Denken und dann auch ihr Arbeiten komplett veränderte.
An der Kölner Sporthochschule tanzte sie mit einer Gruppe, die sich drei Jahre später auflöste. Aber sie wollte weitermachen. Sie brachte Tänzer*innen, Musiker*innen und Künstler*innen zusammen, mit denen sie gerne arbeiten wollte. »Wir haben es einfach ausprobiert«, erinnert sie sich. 13 Menschen sind dabeigeblieben – daher auch der Kompanie-Name DIN A 13. Beim Kölner Festival »Tanz Hautnah« hatten sie 1996 ihren ersten Auftritt. Und sie provozierten – mit ihren teils nackten, nicht-normativen Körpern. Sie spalteten das Publikum in die, die »uns regelrecht angegangen sind«, weil sie so entsetzt waren. Und in die, die begeistert waren von der Reflexion über Körper, vom körperlich diversen Ensemble.
Diese kontroversen Reaktionen haben Gerda König motiviert. Ihre Arbeit entsprach damals nicht den gängigen dramaturgischen Vorstellungen von Ästhetik. Die Kunststiftung NRW förderte sie trotzdem, weitere folgten. Von da an konnten König und ihre Kompanie professionell arbeiten. Im Juni bekam Gerda König als künstlerische Leiterin der DIN A 13 tanzcompany den Kölner Kulturpreis verliehen. International ist die Kompanie bereits seit 2004 unterwegs, zum Beispiel in Sri Lanka, Brasilien, Ghana, Kenia und Israel. 2021 erhielt Gerda König für ihre künstlerische Arbeit im Dialog mit internationalen Künstler*innen das Bundesverdienstkreuz.
Ein wichtiger Schritt der DIN A 13 tanzcompany auf dem Weg zu mehr körperlicher Diversität im Tanz ist das Programm M.A.D.E, in dem seit 2019 Tanzschaffende mit und ohne Behinderung weitergebildet werden. Kübra Sekin, Schauspielerin, Performerin und im ersten Jahr Teilnehmerin des Programms, erzählt, gefragt nach ihrer wichtigsten Erfahrung, dass sie als Tänzerin keinen Normkörper brauche. 13 Tänzer*innen, sieben mit und sechs ohne Behinderung, wurden drei Jahre lang zu professionellen Tänzer*innen weitergebildet. Für Gerda König schließt das Programm eine Lücke, ersetzt aber keine mehrjährige Ausbildung an einer Tanzhochschule.
Mit ihrem Projekt UNIque@dance geht sie – zusammen mit Choreografin Gitta Roser und Projektleiter Dr. Gustavo Fijalkow, künstlerischer Leiter der mixed-abled Forward Dance Company im Leipziger LOFFT – deshalb noch weiter. Und zwar direkt an die Hochschulen und Universitäten mit Tanzstudiengängen. Das Ziel: dass alle Menschen mit unterschiedlichen Körperlichkeiten Tanz studieren können.
Fijalkow und König berichten beide, dass das Interesse an Tänzer*innen mit nicht-normativem Körper groß sei – in der freien Szene genauso wie auf städtischen Bühnen. Ihre mixed-abled Tanzkompanien müssten sogar schon miteinander verhandeln, damit sie mit ihren wenigen Tänzer*innen arbeiten können. Die Nachfrage ist da. Was fehlt, ist die Möglichkeit der Ausbildung. »Es gibt keine regulären Zugänge für Menschen mit nicht-normativen Körpern«, stellt Gerda König fest.
UNIque@dance, unterstützt vom Tanzpakt Stadt-Land-Bund, ist ein durchaus politisch motiviertes Projekt. Universitäre Strukturen müssen durchbrochen und angepasst, die ästhetischen Leitbilder in Tanzstudiengängen ergänzt werden. Genau das fordert Gerda König. In engem Kontakt ist sie dabei mit der Folkwang Universität der Künste in Essen und dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz in Köln. Ihr Plan ist zum einen die Vernetzung und Kooperation, zum anderen die Einrichtung eines Exzellenz-Recherchezentrums, um Konzepte und Strategien zu entwickeln.
Eine der Folkwang-Tänzerinnen, die an einer der gemeinsamen Veranstaltungen teilgenommen hatte, tanzt jetzt auch in Gerda Königs neuer Produktion. Bei den Proben passt sie sich im Tempo und in den Bewegungen an die Tänzerinnen mit körperlichen Einschränkungen an. Alle gehen immer wieder über ihre Grenzen, aber niemand soll in der Performance körperlich herausfallen, das ist Gerda Königs Anspruch. Und die ästhetische Qualität, die Körper mitbringen, die eben nicht normativ sind, die wird so deutlich sichtbar.
Termine:
2. und 3. September Abschlussperformances M.A.D.E-Programm
3. September Fach-Austausch-Tag UNIque@dance
Alte Feuerwache Köln
Tanzproduktion »extRemED«
26. bis 28. Oktober
Barnes Crossing Köln