Und sie bewegt sich doch – die Bühnenmaschinerie im Auf und Nieder zu sphärischen Klängen, reißt tiefe Abgründe auf, baut Stege, errichtet Plafonds und Zwischenräume, bis terrassierte Stufen den Boden bilden – fürs Theater. Johan Simons trotzt der durch Corona abrupt zum Stillstand gekommenen, bald ausgehenden Spielzeit noch eine Premiere mit neun Schauspielern seines Bochumer Ensembles ab: »Die Befristeten«.
Elias Canetti ist der Todfeind. Er hasst den Tod, verneint ihn, er ist ihm Stachel im lebendigen Fleisch, er würde, wenn er gekonnt hätte, den Beendiger aus der Welt geräumt haben. Gleich der erste Satz seiner Aufzeichnungen »Die Fliegenpein« lautet: »Er wäre zu jeder Zeit gern auf die Welt gekommen, immer wieder, und am liebsten jedes Mal für immer.« Die Verwandlung, das große Thema des Literaturnobelpreisträgers von 1981, bietet einen Fluchtraum vor der Seins-Vernichtung.
Canettis »Die Befristeten«, eine Szenenfolge kurzer Dialoge, entwirft eine Welt, in der jeder Mensch – und nur er allein – sein genaues Alter und Todesdatum weiß, seinen »Augenblick«, und er gekettet ist an den »Kontrakt« durch eine Kapsel um den Hals; der Kapselan wacht über die Einhaltung. Ein Jeder trägt als Name die ihm zugemessene Lebenszeit, ob nieder, mittel oder hoch, ob Zehn oder 88. Einer, der Fünfzig heißt, revoltiert gegen das Fatum: »Mich brennt mein Name. Mich brennt jeder Name. Mich brennt der Tod.« Er, ein Mensch unter lebenden Toten, zertrümmert das Dogma um der Freiheit, Freundschaft, Liebe und Lebenslust willen. Aber in die Welt kommt mit der Unsicherheit auch die Lebensangst zurück. Canetti, der Jude aus dem bulgarischen Rustschuk, den es über Wien und Zürich nach London verschlug, beschreibt in dem Drama das Gesetz, das das menschliche Schicksal unmenschlich vorherbestimmt, als Religion, gegen die zu verstoßen, Frevel ist. Wer aufbegehrt, muss als Häretiker widerrufen.
Zuschauer auf Isolierstationen
Wie eine in Rot gekleidet Sekte – durch das stilisiert asiatisch hohepriesterliche Gewand des Kapselan (Jing Xiang) und dessen zeremonielle Auftritte noch verstärkt – betreten die Bochumer »Befristeten« von den Seiteneingängen her das reihenweise von Stühlen entleerte Parkett. Die Zuschauer sitzen in großen Abständen zueinander auf ihren kleinen Isolierstationen. Distanz, das Wort der Stunde. Auch in Canettis Stück, das den Einzelnen durch das ihm zugewiesene Lebensmaß in Abstand zum Unvorhersehbaren und Unberechenbaren hält.
Freihändig nimmt sich die Bochumer Fassung den Text und verhandelt ihn wie einen Diskurs auf der antiken Agora oder im Plenum. Johan Simons holt ihn aus der formstarren Systematik Canettis, verschränkt Szenen wie betende Hände ineinander und öffnet sie zur losen Folge, als würde musikalisch ein Wechsel von der Fuge zur Fantasie vollzogen. Rückt sie durch Wiederholungen ins Beckett-Niemandsland. Erkennt die Nähe zum Ritual, zur ekstatischen Aktion und Massen-Suggestion, die totalitäre Regimes zu inszenieren verstehen, so dass auch ein vollzogener Würge-Mord, der an den von George Floyd erinnert, krass die Linie zur Gegenwart verlängert. Lässt sie hinübergleiten in ein Pop-Intermezzo und verdichtet sie im zweiten Teil zum intimen Zwiegespräch, wenn sich aus der Verbotsmasse der Befristeten in Kitteln, Kinderspielanzügen, Arbeitsoveralls und uniformierten Trachten der Rebell Fünfzig (Stefan Hunstein) und sein Freund (Elsie de Brauw) herausbilden.
Als der Betrug des vorherbestimmten Todes aufgedeckt ist und die Befreiungstheologie sich übermütig orgiastisch selbstverwirklicht hat, sind die Bochumer »Befristeten« ihrem Autor Canetti um eine Sicherheit voraus: »Es gibt kein Ende«. Wie viel Wahn, wie viel Wirklichkeit, wie viel neue Täuschung und Unfreiheit mag darin liegen?
Weitere Aufführungen: 13., 14., 20., 21. und 26. Juni, Schauspielhaus Bochum