TEXT: REGINE MÜLLER
Das Theater Hagen ist – nach Bremen und Stuttgart – bereits die dritte Bühne, die Ludger Vollmers Oper »Gegen die Wand« nach Fatih Akins mehrfach prämiertem und auch mit dem »Goldenen Bären« der Berlinale ausgezeichnetem Film aufführt. Ausnahme der Regel, nach der zeitgenössisches Musiktheater zumeist über die Uraufführung nicht hinaus kommt. Was wohl auch an der Geschichte liegt, wie Vollmer vermutet: »Als Komponist ist man ständig auf der Suche nach einem funktionierenden Opernstoff. Die meisten Kollegen fahnden nach Theaterstoffen und verlassen sich gern auf Klassiker. Ich aber hatte schon immer den Fokus stark auf den Film gerichtet, weil das Kino unseren aktuellen Hör- und Sehgewohnheiten viel näher kommt. Ein Filmstoff trifft zuverlässiger die Mitte der Gesellschaft als das Libretto nach einem antiken Drama.«
Wobei Fatih Akin durchaus mit der Wucht der Tragödie operiert, dem Lebenshunger in krassem Realismus Ausdruck gibt und uns hochemotional das Drama entgegenknallt. 2004 gedreht, war »Gegen die Wand« der vierte Spielfilm des deutsch-türkischen Regisseurs – und spielt in Hamburg. Entsprechend seiner Biografie handelt die Geschichte von Identität: der des türkischstämmigen Einwanderers Cahit, der seit dreißig Jahren in Deutschland lebt, und der jungen Sibel, die in Deutschland geboren und traditionell türkisch erzogen wurde. Zudem entzündet sich eine amour fou zwischen beiden.
Es ist ein Wahnsinn. Gewalttätig, maßlos, selbstzerstörerisch und exzessiv. Wie im Kino des Sam Fuller. Todeswunsch und Verzweiflung, bis am Ende Katharsis, Reinigung und Regulierung stehen, was sich durch die Rückkehr in die alte Heimat anbietet. Die Hauptfiguren sind starke Charaktere. Kraftvoll und sensibel zugleich, unbedingt und zärtlich.
Drei Jahre lang hat Vollmer daran gearbeitet, inklusive intensiver Forschungsarbeit in Sachen außereuropäischer Musik, die ihn zum Studium osmanischer Tradition bis nach Istanbul führten. Was unüberhörbar Spuren in der Partitur hinterließ. Das Instrumentarium umfasst neben der klassischen Orchesterbesetzung orientalische Instrumente und einen stattlichen Perkussions-Fuhrpark. Es klingt überwiegend tonal, fast ohrwurmverdächtig, ein bisschen spätromantische Üppigkeit, ein bisschen Kantigkeit der klassischen Moderne, Schmissiges à la Gershwin, Zartes wie beim späten Strauss und alles kräftig abgemischt mit östlichen Aromen. Eine süffige, eingängige Tonsprache.
Vollmer findet, dass die Melodik in der Avantgarde seit den 50er Jahren stark vernachlässigt worden sei. »Meiner Meinung nach kann man Emotionen aber am sichersten über Melodik transportieren. Deshalb habe ich mich schon früh für musikalische Kulturen interessiert, die noch mit melodiösen Strukturen arbeiten, wie eben die orientalische Musik. Das heißt aber nicht, dass ich das einfach irgendwie zusammen mixe nach den Rezepten des Crossover. Ich habe vielmehr eine eigenständige Musiksprache entwickelt, die zwar Spuren der Traditionen trägt, aber doch ganz eigen ist.«
Im Hagener Opernhaus ist Bühnenorchesterprobe. Wolfgang Müller-Salow am Pult des Orchesters hat hier das Sagen, während das Leitungsteam am Regiepult sich zurückhält. Bis eine Woche vor der Premiere laufen die szenischen Proben üblicherweise lediglich mit Klavierbegleitung. Nun geht es ums Anpassen der musikalischen Nahtstellen, um Tempofragen und die Balance zwischen Orchester und Sängern. In diesem Fall besonders heikel, denn auf der Bühne wird der Graben abgedeckt und das Orchester (verborgen von einer Wand hinter den Sängern) erhöht postiert. Der Blickkontakt zwischen Dirigent und Sängern ist so unmöglich, im Notfall muss die Verständigung über Monitore funktionieren. Eigentlich ein Unding im Musiktheater und noch dazu bei einem Werk Neuer Musik, das nicht zum Kanon der Opernliteratur zählt.
Aber die radikale Umkehrung der Opernverhältnisse ist in Hagen gewollt und wird bewusst riskiert. »Wir wollten so nah wie möglich ran an die Leute«, sagt Bühnenbildner Jan Bammes, dessen Konzept ästhetisch extrem reduziert und sachlich sein will. Zehn kleine Tische stehen scheinbar wahllos auf und neben einem flachen Podest, die graue Trennwand zum Orchester wirkt trist. Nur nicht ablenken vom Spiel. Und das hat es in sich.
»Ich hab’ keine Schwester mehr!«, singt Svetislav Stojanovic immer wieder und schraubt sich in Tenor-Höhen hinauf. Der Sänger verkörpert Yilmaz Güner, den Bruder von Sibel, die mit ihrer doppelten Identität und um ihre Freiheit kämpft. Das Hagener Sängerensemble ist wie die gesamte Belegschaft international. Fast jeder hat einen, wie es in Ermangelung besserer Begriffe heißt, Migrationshintergrund. Ausgerechnet Sibel aber ist bei Kristine Larissa Funkhauser mit einer waschechten Kölnerin besetzt. Legitimität kann sie aber über ihre Ehe einbringen: Verheiratet mit einem türkisch-stämmigen Mann, hat sie ihren Schwiegervater noch als Sprachcoach für die langen türkischsprachigen Passagen der Oper nach Hagen vermittelt. Für sie liegt die Stärke von Vollmers »Gegen die Wand« in der Dramatik und dem daraus folgenden darstellerischen Anspruch: »Manchmal muss ich mich richtig dazu zwingen, mich daran zu erinnern, dass ich ja eigentlich Sängerin bin.«
»Gegen die Wand« trifft in Hagen mehr als anderswo auf konkrete Lebensverhältnisse. Der Migranten-Anteil der Bevölkerung liegt bei 34 Prozent – eine Spitzenposition. Intendant Norbert Hilchenbach, der auch Regie führt, hat sich jedoch nicht aus Gründen der sozialen Verhältnisse und politischen Korrektheit für das Werk entschieden. Es behandle »allgemein menschliche und überzeitliche Probleme. Das geht uns alle an.«
Gleichwohl passt für das Hagener Theater, das mit Kürzungen seitens der klammen Kommune und stets ums Überleben kämpft, das sich müht, neue Zuschauergruppen zu erschließen und den Nachwuchs zu motivieren, »Gegen die Wand« ideal in den Spielplan. Doch sieht Hilchenbach die Grenzen der eigenen Anstrengungen: »Wir können nicht alles auffangen, was gesellschaftlich und sozialpolitisch falsch läuft. Wir sind ein Theater und müssen uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren, Kunst zu machen.«