TEXT: ANDREAS WILINK
Es könnte ein Märchen sein: von Zweien, die auszogen, den Schmerz zu ertragen und das Mitgefühl zu verlernen. Die Geschichte, die Agota Kristóf in ihrem grandiosen Roman von 1986 erzählt, ist die eindringliche Parabel auf das, was Gewalt, Lieblosigkeit und Trägheit der Herzen mit dem Menschen machen. Und ihn verwandeln. Wie im Märchen bleiben die Dinge archetypisch und sind nicht individuell: der Krieg, die Soldaten, die Befreier, die Zwillinge, die Eltern, die Großmutter – Chiffren. Gültig für alle Zeit. »Das große Heft« spielt 30 Jahre nach Michael Hanekes »Das weiße Band« und könnte dessen Dorfchronik am Vorabend des Ersten Weltkriegs beeinflusst haben.
Zwei Jungen müssen fort von zuhause. Der Vater zieht in den Krieg und gibt ihnen zum Abschied das leere »Große Heft«, das sie mit ihren Gedanken und dem Erlebten füllen sollen. Die Mutter bringt sie aufs Land zu ihrer eigenen Mutter, die sie zwei Jahrzehnte lang nicht gesehen hat, nachdem sie im Bösen voneinander geschieden sind. Die alte Frau (Piroska Molnár) nennt die Enkel »Hundesöhne«, lässt sie hart arbeiten und darben, schlägt sie und kennt kein gutes Wort.
Die Neunjährigen, wachsam und klug, reagieren darauf, indem sie sich dagegen panzern. In Wort und Tat. Sie wenden die schlimmsten Schimpfnamen auf sich an und stählen sich. So werden sie zu Herren der Fliegen, Käfer, Frösche, die sie quälen. Sie töten in sich selbst das Gefühl ab, machen die Seele unverwundbar, unterziehen sich strengen Übungen, verbrennen Reste von Erinnerung an ihr früheres Leben. Sie passen sich an. Lernen zu lügen, zu erpressen, zu morden. Die Welt um sie her lehrt sie das Übrige: ein Soldat erfriert, Juden werden abtransportiert, die Deutschen errichten ein Lager, Männer und Frauen haben Lust auf sie; später kommen die Befreier mit dem Roten Stern, vergewaltigen und töten ebenfalls.
Die kühle Präzision des Buches und seine Wucht behält János Százs’ Verfilmung bei, deren Bilder immer mehr sind, als Bebilderung des Geschehens. Und die manchmal den Ausweg aus realistischer Schilderung in comichafte Zeichnungen und Motive des Daumenkinos suchen, wie sie im »Großen Heft« stehen könnten. Der Film schmälert die Handlung um wesentliche Episoden, verdeutlicht und konkretisiert manches mehr als die Vorlage. Aber hält sich an den Geist der Erzählung über den Prozess der De-Zivilisation. Um die Zwillinge (beeindruckend gut: András und Laszlo Gyemant) herum grassiert der Tod. Hält Ernte auch in der eigenen Familie. Irgendwann taucht ihr Vater (Ulrich Matthes) auf. Sie schicken ihn in den Tod: als ihre »letzte Übung« – die der Trennung, auch die der Unzertrennlichen voneinander. Sind sie nun Meister des Schicksals? Überlebenstechniker jedenfalls. Unberührbar.
»Das große Heft«; Regie: János Szász; Darsteller: András und Laszlo Gyemant, Piroska Molnár, Ulrich Matthes, Ulrich Thomsen; Ungarn 2013; 110 Min.; Start: 17. Oktober 2013.