TEXT: STEFANIE STADEL
Das Happening: Es zählt nicht zu den künstlerischen Äußerungen, die man aufbewahren kann. Doch das Museum Morsbroich unternimmt den Versuch. Es dokumentiert und rekonstruiert in einer großen Ausstellung erstmals Wolf Vostells flüchtige Aktionen und schöpft dabei aus dem Riesenarchiv des Künstlers.Verblühende Blumen, überreifes Obst: Zeugen des Verfalls. Man kennt sie sonst eher gemalt – oft, gern und gut in den niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts. Wolf Vostell greift die Idee auf, verzichtet dabei allerdings auf den Pinsel. Er nimmt den Salat lieber wie er ist. Gleich kistenweise. Einen ganzen Waggon füllt der Künstler 1970 mit dem Grünzeug und schickt ihn auf Pendeltour zwischen Köln und Aachen – zwei Tage lang pausenlos hin und her, hin und her. Begleitet von Happening-Fans, die beim Welken zusehen dürfen.
Und damit nicht genug. Um die Sache bis zum unappetitlichen Ende durchzuziehen, lässt er eine der Kisten nach den beiden Publikums-tagen im Metallkoffer weiterreisen – ein ganzes Jahr lang. Noch nach 90 Tagen können Wissenschaftler Leben in den matschigen Blättern nachweisen.
Im Museum Morsbroich wird das Schauspiel nun rekonstruiert, mit Fotos, Dokumenten, Zeichnungen, Partituren, einem Multiple. Dazu holt man sich, nach Vostells Rezept, eine Original-Kiste frischen Salat ins Haus. Nicht für ein ganzes Jahr, zum Glück. Nur für gut zwei Monate – die Dauer der Ausstellung. Sie widmet sich eingehend und ausführlich Vostells Happenings aus vier Jahrzehnten.
Es ist genau der richtige Ort für ein solches Unternehmen. Nicht nur, weil Vostell 1932 in Leverkusen zur Welt kam. Auch weil man sich seit Jahren bemüht, den Nachlass des 1998 verstorbenen Künstlers ans Museum Morsbroich zu holen und damit den Grundstein für ein »Kompetenzzentrum für Fluxuskunst« zu legen.
Da kommen Vostells Happenings als Profilierungs-Thema gerade recht. Denn speziell dieser Teil des Œuvres sei bisher in der Forschung stark vernachlässigt worden, sagt Fritz Emslander, zuständig für Vostell und Fluxus im Museum Morsbroich. Als Kurator der Schau räumt er dem Köln-Aachener Salat eine zentrale Position auf dem Parcours ein.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Röntgenaufnahme eines menschlichen Brustkorbs – sie verleiht dem Verfallsgeschehen unversehens eine ganz neue Dimension. Denn der Betrachter erkennt nicht nur formale Verwandtschaften zwischen Salat und Lunge, sondern ahnt sogleich auch Analogien zwischen dem faulenden Grün und Veränderungsprozessen im eigenen Körper. Man kommt gar nicht darum herum, sich wieder einmal klar zu machen: Alles hat ein Ende. Das eigene Leben – und auch jedes Happening, selbst wenn es auf die Dauer eines ganzen Jahres gedehnt wird. Einmal passiert, für immer vorbei. Denn Wiederholung kommt nicht in Frage. Ein Dilemma, das Vostell als Happening-Künstler offenbar ziemlich beschäftigt hat. So engagierte er Fotografen, die seine flüchtigen Werke festhielten. Er selbst filmte und sammelte seit den 50ern akribisch alles, was irgendwie damit zu tun hatte. Unmengen von Zeitungsausschnitten, Briefwechsel, Bücher, Zeitschriften, Einladungen, Plakate, Terminkalender, Zeichnungen, Drucke, Multiples.
Als echte Katastrophe erlebte seine spanische Frau und Assistentin Mercedes Vostell den Verlust der Unterlagen zur Großaktion »in Ulm, um Ulm und um Ulm herum«. Im Katalog-Interview erklärt sie dazu, dass es für ihren Mann nachher fast so gewesen sei, als hätte er das Happening gar nicht gemacht.
Was in Vostells Kölner Wohnung noch den Korridor verstopft hatte, bekam nach seinem Berlin-Umzug 1971 ein eigenes Zimmer. Mit Leidenschaft und bürokratischer Sorgfalt betrieb Vostell den Aufbau dieser Materialsammlung. Jedem Happening widmete er einen eigenen Stempel, den er allen zugehörigen Dokumenten aufdrückte. Und ging schließlich sogar so weit, das heute im Museo Vostell im spanischen Malpartida beheimatete Archiv als das beste unter all seinen Werken zu feiern.
Das Museum Morsbroich kann sich freuen über so viel Leidenschaft und Gründlichkeit. Denn ohne dies täte man sich wohl sehr schwer, einem Happening-Künstler wie Vostell auf die Spur zu kommen. Einem, der kaum etwas anderes im Kopf hatte, der, sobald ein Happening abgespult war, schon das nächste anvisierte.
Nicht einfach so – als Selbstzweck oder zum Spaß. Auch wenn seine absurden Einfälle manchmal wie Nonsens aussehen. Den stämmigen Sohn eines Leverkusener Eisenbahnschaffners trieb ständig der Ehrgeiz, die Teilnehmer persönlich, moralisch, in ihrer Wahrnehmung und Kritikfähigkeit weiterzubringen. »Es sind die Dinge, die Ihr nicht kennt, die Euer Leben verändern werden«, so verheißt er in einer Zeitungsanzeige.
Mit Mitte zwanzig fängt Vostell damit an. In Paris, wo er bei einem Plakatgestalter lernt und 1958 nebenbei das erste europäische Happening organisiert. Es ist nicht schwierig. Er bittet einfach die Leute draußen, sie mögen doch an Hauswänden in der Umgebung auf zerrissenen Plakaten Textfragmente laut lesen und die Inhalte in Handlung umsetzen. Auch legt der junge Künstler ihnen nahe, die zufällige Alltags-Décollage durch eigene Abrisse fortzusetzen und auf diese Weise neue Begriffe und Aktionen zu generieren. »Das Theater ist auf der Straße«, so der Name des Spektakels, den das Museum Morsbroich nun als treffenden Ausstellungstitel übernimmt.
Vostell schöpft praktisch aus dem Nichts. Denn Mitmachaktionen wie diese hat man zuvor nicht gekannt. Die Wirklichkeit, der Alltag als fester unbedingter Bestandteil der Kunst: Noch am nächsten darf er sich mit seinem Konzept den Dada-Kollegen fühlen. Man könnte sagen, dass Vostell deren alte Idee des Objet trouvé weiterspinnt, ihr den Begriff einer Vie trouvée zur Seite stellt.
Ein Gedanke, der dem Künstler offenbar nicht fremd ist. So beruft er sich selbst auf Marcel Duchamp und seine Ready-mades – macht aber sogleich klar, dass er mehr will. Wenn Duchamp ein Urinoir zum Kunstwerk erkläre und die Kunstwelt dies akzeptiere, so Vostell, warum könne dann die Aktion, die alltägliche Handlung, die mit diesem Objekt verknüpft sei, nicht auch ein Kunstwerk sein?
In Köln macht Vostell 1961 im ersten Happening auf deutschem Boden ernst. Unter dem Motto »Cityrama« führt der Künstler sein Publikum auf einer Guided Tour per Bus zu 26 Unorten in der zerbombten Stadt und legt ihm per Anleitung Aktionen nahe – etwa das Urinieren auf den Trümmern.
Die 60er werden zum Jahrzehnt des Happenings. Auch in den Vereinigten Staaten, wo etwa gleichzeitig mit Vostell vor allem Allan Kaprow die Kunstform vorwärts bringt. Dem Happening-Künstler Vostell bietet diese Zeit ein passendes Ambiente und noch dazu jede Menge Stoff: Ost-West-Konflikt, Studentenunruhen, Vietnam, Berliner Mauer. Und natürlich die frische Erinnerung an den nicht lange vergangenen Weltkrieg. Lauter Themen, die er in seinen Happenings mit oft ziemlich drastischen Mitteln aufs Tapet bringt.
Hintergründigkeit, Anspielungen subtilerer Art sind dabei nicht unbedingt seine Sache. Vielleicht erhofft sich Vostell vom Holzhammer auch einfach nur größere Schlagkraft. Wenn er sein Publikum anweist, Stecknadeln in Innereien am Boden zu pieksen. Wenn er die Pool-Landschaft zum Massengrab, den Tennisplatz zum Konzentrationslager umdeutet. Wenn er nackte Frauen auf die Laderampe eines Lasters hebt, wo sie duschen, Briketts waschen und dabei ihre Kleider zerschneiden.
Bezeichnend für seinen ehrgeizigen Anspruch scheint, dass der Künstler im Anschluss an solche Veranstaltungen in Gesprächen und psychologischen Untersuchungen die Wirkung des Ganzen auf alle Beteiligten zu ergründen suchte. Dazu passt auch, dass er sich schon früh Rundfunk und Fernsehen zu nutze machte, um in sogenannten Instant-Happenings ein möglichst großes Publikum an seinen erkenntnisfördernden, bewusstseinserweiternden Maßnahmen teilhaben zu lassen.
Denn Kunst war für Wolf Vostell nicht weniger als eine Methode, »die Probleme des Menschen zu lösen«. Eine Utopie, die Bestand hat.
Museum Morsbroich, Leverkusen. 6. Juni bis 15. Aug. 2010. Tel.: 0214/855560. www.museum-morsbroich.de