An der Halle Münsterland rechts abbiegen auf den Hawerkamp, vorbei an Wohnmobilen, Junkies und einer Brache, auf die ein ganzer Stadtteil passen würde. Nach ein paar hundert Metern ist man da. Das ehemalige Gelände von Bücher & Sohn, einem verblichenen Bauunternehmen, ist seit fast 30 Jahren eines der wichtigsten Kulturquartiere Münsters. Nichts erinnert an die puppenstubenhafte Gepflegtheit der Innenstadt mit den gediegen feinen Geschäften unter den Arkaden um den Prinzipalmarkt.
Hier, am Rand des Münsteraner Hafengeländes, sieht es aus wie im Ruhrgebiet, wie in Köln-Mülheim oder -Ehrenfeld: Backsteingebäude aus der Nachkriegszeit und Gerippe aufgegebener Hallen mit Graffitis an den Wänden. Bis das zur Industriekultur wird, werden noch Jahrzehnte ins Land gehen. Was tagsüber trist und verlassen wirkt, ist bei Nacht einer der lebendigsten Orte der Stadt. Auf dem Hawerkamp-Areal liegen die Sputnik-Halle, der Live-Elektro-Club Fusion und das Triptychon, ein Dub-, Reggae- und House-Club. Neben kleinen Verlagen gibt es viele Ateliers und eine große Ausstellungshalle. Über 40 Künstler haben sich in der Gegend niedergelassen.
Konventionell, ordentlich, münsteranerhaft
Die Anfänge als Kulturquartier waren eher ungewöhnlich. Auch wenn man sich beim Streifzug über das weitläufige Gebiet zurückversetzt fühlt in die Hausbesetzer-Ära der 80er Jahre, als mit der Zeche Carl in Essen, dem Stollwerk in Köln oder der Regenbogenfabrik in Berlin-Kreuzberg Kulturzentren einfach mit ihrer Arbeit begannen, ohne auf den legalen Rahmen zu warten. Die Geschichte des Hawerkamps jedoch ist konventioneller, ordentlicher, münsteranerhafter. Es wurde nichts besetzt, es wurde vom ersten Tag an gezahlt. Als Bücher & Sohn 1988 pleite ging, begann der Insolvenzverwalter, die leerstehenden Immobilien an Künstler und Veranstalter zu vermieten. Wenig romantisch ging es schlicht um die Befriedigung der Schuldner von Bücher & Sohn. Was sich heute wild ausnimmt, hat brav begonnen. 1993 übernahm die Stadt das Ganze; immer wieder gab es Vorstöße und Ideen, alles abzureißen und die strubbeligen Künstler, Nachtmenschen und Freiberufler zu vertreiben. Der Verein »Erhaltet den Hawerkamp« gründete sich und stritt mit der Kommune um die Zukunft der Fläche. Und dann begann Münster zu träumen, Kulturhauptstadt Europas zu werden.
Wer sich im Vorlauf Anfang des 21. Jahrhunderts darum bewarb, Europäische Kulturhauptstadt im Jahr 2010 zu werden, tat gut daran, seine Bewerbung nicht allzu glatt aussehen zu lassen. Es war damals viel von Kreativwirtschaft zu lesen, Richard Floridas Buch »The Rise Of The Creative Class« in aller Munde, auch wenn nicht jeder, der davon schwärmte, es auch gelesen hatte. Dezent chaotische, raue Quartiere wie das Hawerkamp waren plötzlich Kleinode der Stadtentwicklung, folglich wurde das Quartier zu einem zentralen Baustein der Kulturhauptstadtbewerbung. Die scheiterte zwar – den Zuschlag erhielt das Ruhrgebiet mit dem Weltkulturerbe Zollverein, das bis heute nicht die Lebendigkeit des Hawerkamps erreicht hat; doch für das Hawerkamp war die Stellung, die man durch die Bewerbung erreicht hatte, ein Segen. Seine Bedeutung war erkannt. Münster entschloss sich zu einem Weg, der für die meisten Städte nicht selbstverständlich ist. Es ließ los. Das Gelände wurde dem »Verein Hawerkamp e.V.«, der aus »Erhaltet den Hawerkamp« hervorging, über einen Selbstverwaltungsvertrag langfristig zur Verfügung gestellt. Jetzt bestimmten diejenigen, die das Gelände auch nutzen.
Kreativkai mit Agenturen und Architekten
Ein paar Meter weiter ist man noch nicht so weit: Die B-Side, so der hippe Name des Hill-Speichers mit 2000 Quadratmetern Nutzfläche, liegt im Gegensatz zum Hawerkamp direkt am Wasser. Solche Flächen, zumal in einer wohlhabenden, wachsenden Stadt, sind Traumareale von Investoren. Seit in London aus den heruntergekommenen, wirtschaftlich überflüssig gewordenen Docks im Osten der Metropole einer der teuersten Wohn- und Geschäftsbezirke wurde, wandeln sich vielerorts die alten Hafenanlagen. Auch in Münster. Der Kreativkai ist ein Quartier, in dem sich Werbeagenturen und Architekten auf 51.000 Quadratmetern niedergelassen haben, in dem sich Cafés und Restaurants reihen und auch 32 Ateliers. Die 244 Unternehmen gehören mit 43 Prozent zur Kreativwirtschaft, mit 18 Prozent zum Rechts- und Wirtschaftswesen, sechs Prozent sind Gastronomiebetriebe.
Für die Stadt ist der Kreativkai ein Erfolg, wirtschaftlich und stadtplanerisch. Touristen flanieren und konsumieren, Münster zeigt seine modern-mondäne Seite und grenzt sich ab vom konservativen Image der historischen City. Doch die Kommunalpolitik hat erkannt, dass es wenig Sinn macht, das Modell Kreativkai einfach an anderer Stelle im Hafen zu wiederholen. Mit den Stimmen von CDU und Grünen bei Enthaltung von SPD, Linken und FDP beschloss der Rat in diesem Frühjahr, prüfen zu lassen, wie der Speicher auch künftig von Kreativen genutzt werden könne. Investoren sind nicht ausgeschlossen, aber der Politik scheint es wichtig zu sein, Freiräume zu erhalten, zumal es kaum bezahlbare Alternativen in der boomenden Stadt gibt.
Man bemüht sich, Effekte der Gentrifizierung in Grenzen zu halten. Problemlos hätten sich für den Hawerkamp wie für die B-Side Flächen vermarkten lassen. Münster als ausgezeichneter Standort hat keine Schwierigkeiten, Unternehmen anzusiedeln. Umso klüger, Bereiche vorzuhalten, in denen Off-Kultur und kleine Selbstständige existieren. Kurzfristig vielleicht ein wirtschaftlicher Nachteil, langfristig ein Gewinn an Attraktivität.