Der Mensch ist eine liebessüchtige Kreatur; für das große Gefühl wird er leiden, Lust empfinden, sich lächerlich machen, bis das Herz aufhört zu schlagen. Die Choreografin Meg Stuart widmet sich, so suggerieren Titel und Beginn ihres neuen Stücks, wieder der Passion als quasi-evolutionärem Prozess. Erst die trostlose Vereinzelung: Der Mensch hospitalisiert im halbdunklen Ursuppenzustand, jeder mit einem anderen beim kreatürlichen Schaukeln, Zucken, Pulsieren. Es folgt das zweisame Kuscheln, was ins Chaos kippt mit Körperknubbeln wie einst im Osho-Ashram. Schließlich: die desperate Gier nach dem anderen, Gewalt. So weit, so Stuart. Doch diesmal ist die Beziehungs-Apokalyptik der US-Amerikanerin mit der von ihr symptomatisch benannten Kompanie »Damaged Goods« nur ein Prolog. Es folgt ein Abend, der so verrückt-albern und bezaubernd ist, wie man es ihr kaum zugetraut hätte.
»Anstatt, wie es typisch für die Kunst ist, eine Fassade abzubröckeln, zu demaskieren und zu zeigen, dass hinter der Illusion eine ganz andere Wahrheit steckt, hat sich Meg Stuart vielmehr umgekehrt die Frage gestellt: Wo braucht der Mensch Illusion und Spiel, um der Wirklichkeit näher zu kommen?« Sagt der Dramaturg Jeroen Versteele.
Die Schmerzens-Koryphäe Stuart zeigt sich also diesmal als Apostel von Schillers ästhetischer Schule: Menschsein heißt spielen. »What do we need real magic for?«, lautete eine Leitfrage bei den Proben. Um sie zu beantworten, lud Stuart Illusionisten aller Art zu Workshops in die Proben ein: Yoga-Experten, eine Tantra-Masseuse, einen Zauberer, sogar einen Hypnotiseur, der die Crew in Trance versetzte.
Derart übersinnlich instruiert, zeigt sich das Ensemble hemmungslos spieltrieb-gesteuert: Die Tänzer erkunden patschend und knetend ihre Intimbereiche, so schamfrei, dass einen das Voyeurismus-Dilemma packt: Muss man moralisch-peinlich, darf man lustvoll berührt sein? In anderen Szenen mimt man den Houdini und lässt jemanden im rollbaren Spiegelkabinett verschwinden. Ein Performer probiert sich als später Frank Sinatra mit Texthängern und Patina in der Stimme. Denn die Liebe zum Abgewetzt-Versehrten behält Meg Stuart auch im amüsantesten Setting noch bei.
Eine großartig-schäbige Glamour-Komödie könnte diese Choreografie sein. Doch die Wirklichkeit hat Stuarts Stück letztlich wieder in eine Tragödie verwandelt: Nach der letzten Vorstellung in München verstarb unerwartet ihr Bassist und musikalischer Weggefährte Paul Lemp, an einem Aneurysma. Das Stück wird bei der Ruhrtriennale in Essen anders sein, aber vielleicht noch mehr Antwort geben auf die Leitfrage. Denn auch dafür braucht es »real magic« – die Kunst als Trost. Jetzt erst recht.
Und der für diese Choreografie angekündigte Cornelius Gurlitt? Es gibt ein paar Bilderrahmen im Hintergrund, sonst: keine Spur von ihm. Eben. Denn wie ein Escape-Artist habe der Sammler sich selbst und die Bilder jahrzehntelang verschwinden lassen, meint Jeroen Versteele. »Um die eigene Position zu verstehen, braucht es manchmal krasse Perspektiven wie Gurlitt sie bietet. Am Anfang einer Produktion gibt es ein Kraftfeld von Themen, dann kommt Stuart wie eine Zentrifuge, zieht alles in ihre Gravitationsschleuder, schafft neue Verbindungen.« Da wird aus einem Kunstliebhaber dann ein Illusionist.
17. bis 20. September 2015, PACT Zollverein, Essen.