Interview: Andrej Klahn
// »Ein Menschenbild, das in seiner Summe Null ergibt«, so ist Schorsch Kameruns vom WDR produziertes Hörspiel betitelt, für das der Sänger der Punkband Goldene Zitronen im letzten Jahr mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, dem bedeutendsten dieser Art, ausgezeichnet worden ist. Irgendetwas im Minusbe- reich kommt heraus, wenn man das Menschenbild in Rolf-Dieter Brinkmanns 1975 erschienenem Gedichtband »Westwärts 1 & 2« addiert. Gedichte, so einfach wie Songs wollte Brinkmann schreiben und wähnte sich mit »Westwärts« diesem Ideal ein Stück weit näher ge- kommen. Sei es ihm doch gelungen, zumindest einige Gedichte »wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus«. Schorsch Kamerun, Punk der ersten Generation und seit einigen Jahren als eigenwilliger Theater-Regisseur u. a. am Hamburger Schauspielhaus, den Münchner Kammerspielen und der Berliner Volksbühne unterwegs, wird darauf nun für die RuhrTriennale die musikalische Probe machen. Am 20. September hat sein »begehbarer Ausnahmezustand« in der Maschinenhalle Zeche Zweckel Premiere, mit dabei sind neben den Musikern und der Schauspielerin Sandra Hüller auch 50 Laiendarsteller aus der Region.
K.WEST: In Ihrer ersten Inszenierung für die RuhrTriennale, Hans Eislers »Hollywood Elegien«, haben Sie 2002 einen Zeittunnel gegraben, der Sie über die McCarthy-Ära bis zur repressiven Politik George Bushs geführt hat. Welchen Bezug unterhalten Brinkmanns Gedichte zu unserer Gegenwart?
KAMERUN: Brinkmann formuliert eine große Wut. Als er diese Gedichte geschrieben hat, konnte er für seinen Protest noch eine Form finden. Das ist heute schwieriger geworden, doch ich finde insbesondere seine Gesellschaftsbeschreibung hoch aktuell. Brinkmann war ja nicht explizit politisch. Doch die Art, wie das Individuum in »Westwärts« durch seine Zeit läuft und sich in der Gesellschaft bewegt, scheint mir sehr zeitgemäß zu sein. Mich interessiert vor allem die Machtlosigkeit, wobei unklar bleibt, was genau das Individuum verletzt. Brinkmann hat etwas benannt, was heute noch gilt: das Alleinsein. Der kollektive Gedanke ist uns weggebrochen. Jeder muss sich heute selbst formulieren. Genau das hat Brinkmann dann ja auch getan. Er hat individualistisch empfunden.
K.WEST: Brinkmanns Existenzwut schlägt in alle Richtungen aus: gegen die ökonomische Zurichtung der Welt, gegen die herrschende Sexualmoral, gegen eine als Beengung empfundene Bundesrepublik. Zugleich beklagt er aber auch die mangelnde Anerkennung seiner Arbeit. Der gesellschaftskritische Impuls wurzelt also nicht zuletzt in dieser Kränkung. Macht Brinkmann das in politischer Hinsicht nicht zu einem unzuverlässigen Gewährsmann?
KAMERUN: So kann man es sicherlich sehen. Brinkmann übernimmt keine Verantwortung, er verhält sich nicht politisch. Ich komme aus der Hamburger Autonomen-Szene, unsere Band tummelt sich auch heute noch darin. Ich habe den Häuserkampf miterlebt. Aus derartigen Dingen hat Brinkmann sich herausgehalten, wahrscheinlich taugte er für diese Protestformen auch nicht. Ein Plenum hätte er wohl nicht überstanden, das ist eine Frage der Persönlichkeit. Richtungen mitbestimmen, sich in Flügelkämpfen aufreiben – das war nicht seine Sache. Aber vielleicht ist das die Voraussetzung, dass seine Sprache uns auch heute noch etwas zu sagen hat.
K.WEST: Die Bühne Ihrer Inszenierung ist eine Art Warte- oder Schlafsaal. Können Sie diese Versuchsanordnung etwas genauer beschreiben. Welche gesellschaftlichen Prozesse laufen da ab?
KAMERUN: Wir gehen von einem konkreten Moment aus: dem Machtwechsel. Wir bitten die Zuschauer mitzukommen und sich auf eine Stunde Null einzulassen, auf einen ungeleiteten Moment, aus dem heraus sich etwas entwickeln muss. Es gibt zunächst diese leere Halle und eine Ankunft. Innerhalb dieses Rahmens findet – als zweite Spur – ein Konzert statt, vertonte Brinkmann-Gedichte. Der Vorteil dieses Arrangements könnte sein, dass die Zuschauer sich auch bewegen müssen, wir also alle unterwegs sind. Inspiriert dafür hat uns die Arbeit des holländischen Videokünstlers Aernout Mik, der solche Krisenzustände inszeniert. Dabei definiert er nie genau, wer die Autorität ist; Hierarchien sind immer instabil. Mir scheint, dass die heute auch gesellschaftlich nicht mehr funktionieren.
K.WEST: Sie simulieren also eine Art Utopie?
KAMERUN: Das ist keine Utopie, wir gehen von realistischen Szenarien aus und versuchen eine verschleierte Übertragung. Der Zuschauer geht durch ein Tunnelsystem und kann nur erahnen, welche Handlung um ihn herum abläuft. Es ist alles sichtbar, findet jedoch weitgehend ohne Sprache statt. Dabei wollen wir nicht klar definieren, was passiert, wenn ein Mächtiger hereinkommt und die Leute dazu bewegt, bestimmte Handlungen auszuführen.
K.WEST: Sind die Anordnungen denn klar?
KAMERUN: Für uns schon, doch für den Zuschauer ist die Anordnung eher diffus. Hier sehe ich eine Parallele bei Brinkmann, der durch die Straßen geht und sich fragt: »Was machen diese Menschen hier eigentlich gerade?« So, als wenn ich mich ins Auto setze, aus der mir vertrauten Umgebung herausfahre, an einer Raststätte halte und denke: »Das gibt es doch nicht. Warum bezeichnen all diese Freaks mich als Freak?« Stellen Sie es sich so vor, als ob Sie durch eine Fußgängerzone spazieren, sich die Ohren zuhalten und sich zu dem, was Sie sehen, einen ganz anderen Sound basteln. Diesen Sound liefert bei uns das Konzert.
K.WEST: Wie gehen Sie mit dem nervend virilen Rockmann-Tonfall Brinkmanns um?
KAMERUN: Diese verbalen Fick-Kaskaden waren in Brinkmanns Zeit riskant. Damals stellte seine sexuell aufgeladene Sprache eine enorme Befreiung dar. Heute ist das tausend Mal durchgenudelt, und wir hören eh nichts anderes mehr. Deswegen haben wir die Sex-Passagen vorsichtig gestrichen. Die Rock’n’Roll-Sänger machen ja immer weiter. Traurig.
K.WEST: Aber Brinkmann wollte Gedichte so einfach wie Rock’n’Roll-Songs schreiben.
KAMERUN: Das war eine andere Zeit. Mick Jagger singt heute noch »Street Fightung Man«, allerdings im Stadion. Das ist doch irre. Ich verstehe überhaupt nicht, wie einer sich motivie- ren kann, heute noch »Street Fighting Man« zu singen, übertragen von einer riesigen Video-Leinwand. Die Rock-Maschine wackelt also weiter, keiner hört auf. Ich glaube, das Physische am Rock hat Brinkmann fasziniert. Das interessiert immer alle, auch die Theater-Leute. Die kommen dann zu mir und sagen: »Mach doch mal so, wie ihr mit eurer Band spielt. Das müsste man irgendwie auf die Bühne bringen.« Das ist ein großes Missverständnis. Wer nie Rock’n’Roll war, denkt, er hat irgendetwas verpasst. Das hätte Brinkmann auch passieren können. Doch er ist ja in seinen Text sehr physisch gewesen.
K.WEST: Ihre Arbeit wird einerseits getragen von einer klaren politischen Haltung, andererseits gibt es immer wieder auch ironisierende Brechung. Man könnte darin eine große Sensibilität gegenüber Selbstgerechtigkeit und Pathos erkennen. Finden Sie diese Ironie bei Brinkmann?
KAMERUN: In Brinkmanns Texten gibt es etwas Bitteres. Er war sehr direkt, hat den Bruch, der mit der Ironie des Pops kam, nicht erlebt. Für Scherze war er zu wütend. Eine solche Direktheit hat es heute schwierig.
K.WEST: Sie haben in Ihrer Inszenierung von »Macht & Rebell« (2006) das Aufgehen subkultureller Strategien im Mainstream thematisiert. Ist es heute, wo ästhetische Abweichung zur Norm geworden ist, noch sinnvoll, von Subkultur, zu dessen Avantgarde Brinkmann gezählt wird, zu sprechen?
KAMERUN: Ich kann mit diesem Begriff tatsächlich nichts mehr anfangen. Vielleicht hat das auch mit dem Alter zu tun, ob und wie man noch Dinge für sich entdeckt. Aber es gibt wahnsinnig wenig zu entdecken, weil alles so ungeheuer ausgeleuchtet ist. Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass die Popkultur und mit ihr die urbane Aufregung verschwindet. Heute kann man doch im Frühstücksfernsehen se- hen, was in den abgelegenen Künstlerecken Pekings los ist. Alles sucht nach Authentizität, weil die sich als Ware so gut verkauft wie nie. Deshalb scheint es mir zurzeit dringlicher, inhaltlich zu arbeiten, statt nach provokanten Formen zu suchen.
K.WEST:Sie haben Ihr künstlerisches Tun immer politisch definiert. Ist das in den letzen Jahren schwerer geworden?
KAMERUN: Es fällt mir schwerer, direkt zu sein und die richtige Form zu finden. Im Moment wäre es vielleicht angebracht, sich mal wieder ein bisschen befindlicher zu geben. Sich zu überlegen, was einen denn so nervt, statt den nächsten Agamben zu lesen. Die Fronten sind auch nicht mehr so klar. Vor mir stand noch ein Lehrer aus der Nazi-Zeit, der auf Schönschreibclub machte. Im Prenzlauer Berg oder in St. Pauli lässt es sich mittlerweile wunderbar ökomäßig leben. Diese Räume hat man sich erkämpft, aber heute sagen sie dir dann auf amerikanische Art: Guck mal, du kannst es doch schaffen, und wenn du es nicht schaffst, dann liegt es eben an dir. Tja. Was soll man da sagen?
K.WEST: Ist das politische Engagement denn dringlicher geworden?
KAMERUN: Wenn Studenten heute auf die Straße gehen, dann für ein paar Euro mehr, denn sonst haben sie ja alle Möglichkeiten. Unser großes Problem ist doch die zunehmende Verindividualisierung bei gleichzeitiger Auflösung des Privaten, und die soziale Schere klafft weiter denn je auseinander. Vielleicht haben an diesem Punkt die Hartz IV-Empfänger gemeinsam mit den Künstlern versagt. Denn offensichtlich gelingt es Ihnen nicht, irgendetwas dagegen zu zeigen. //
Am 20., 21., 24., 26. und 27. September 2008 in der Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck. www.ruhrtriennale.de