kultur.west: Herr Volpi, wie arbeitet es sich im Düsseldorfer Balletthaus?
VOLPI: Auf Distanz! Die Corona-Zeit prägt derzeit natürlich unsere Arbeitsweise. Die gesamte, neu formierte Kompanie hatte noch nicht die Gelegenheit, sich künstlerisch zu begegnen. Wir sind noch in Gruppen aufgeteilt.
kultur.west: Wie viel konnten Sie von dem aktuellen Spielplan retten?
VOLPI: Das ist schwer zu sagen, wir entscheiden von Stück zu Stück (die Besprechung von Volpis erster Inszenierung lesen Sie hier). Dabei ist es uns wichtig, an den Gastchoreografen, die wir eingeladen haben, festzuhalten. Für Freiberufler ist die Situation natürlich existenziell.
kultur.west: Sie haben rund 50 Bühnenwerke erarbeitet, darunter Handlungsballette wie »Der Nussknacker« oder »Salome«, aber auch Opern wie »Médée« oder »Tod in Venedig«. Dabei verbinden Sie den Tanz mit Oper und Schauspiel. Sehen Sie so die Zukunft des heute oft belächelten klassischen Handlungsballetts?
VOLPI: Auch, aber nicht nur. Wieso wird das Handlungsballett belächelt? Davon weiß ich nichts. Es gibt viele Formen für ein Handlungsballett: abstrakt, surreal, zerstückelt. Es braucht nicht immer ein Tutu oder ein Krönchen. Meine Sprache ist je nach Intention, Struktur, Aufführungsgeschichte oder -praxis eines Stückes immer eine andere – ob ich nun »Der Tod in Venedig« mache oder »Krabat«.
kultur.west: Ist es Ihnen wichtig, mit anderen Sparten als dem Tanz allein zu arbeiten?
VOLPI: Ja, wenn das Stück danach verlangt. Jedes Stück ist ein Lebewesen. Man gibt ihm einen Funken und dann beginnt es, Dinge von einem zu brauchen. Manchmal führt es einen in die Irre. Da muss man genau zuhören. Mit einem Werk unterhält man eine Beziehung. Natürlich beschäftige ich mich damit, was andere Künstler mit dem Stoff gemacht haben. Wenn ich denke, ich kann da nichts hinzufügen, dann lass ich es auch. Aber wenn ich fühle, dass da für mich noch ungestellte Fragen sind, dann mache ich mich an die Arbeit.
kultur.west: Welche Personen und Einflüsse haben Sie entscheidend geprägt?
VOLPI: Viele – und ich werde weiterhin von vielen Künstlern und Künstlerinnen und Erlebnissen im Alltag inspiriert. John Cranko ist ein starker Einfluss gewesen, weil er damals die Pantomime im Ballett abgeschafft hat. Eine große Leistung, weil er dem Tanz das Drama und den Figuren eine ernst zu nehmende Psychologie und damit ein eigenes Leben geschenkt hat. Das prägt mich bis heute, auch wenn ich es heute hinterfragen und kritisch sehen muss. Ich muss ja weitergehen. Also, es gibt nicht den einen Künstler, von dem ich sagen würde, das ist der Stern, nach dem ich mich richte. Dafür ist das Spektrum einfach zu groß.
kultur.west: Sie haben nahezu weltweit, in Süd- und Mittelamerika, in Kanada, Litauen und an Häusern in Deutschland, darunter Gelsenkirchen und Dortmund, als Gast gearbeitet. Das nomadenhafte Künstlertum ist ihnen also vertraut. In Stuttgart waren Sie von 2010 bis 2017 Hauschoreograph. Erlaubt diese Position nicht die perfekte Arbeitsweise? Ein festes Engagement, nur dem Kreativen verpflichtet?
VOLPI: Ja, es war eine perfekte Position, die mir viele Freiheiten und Möglichkeiten gegeben hat. Aber irgendwann hatte ich den Wunsch, die Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel die Struktur einer Kompanie, selbst zu definieren.
kultur.west: Sie wurden in Buenos Aires geboren. Schon mit vier Jahren begannen Sie zu tanzen. In welchem Umfeld sind Sie aufgewachsen? Wie kommt es, dass Sie akzentfrei Deutsch sprechen?
VOLPI: Mein Vater war Elektrogeräte-Ersatzteilehändler, meine Mutter hat sich um uns drei Kinder gekümmert. Meine Eltern wollten, dass wir Kinder zweisprachig aufwachsen – warum auch immer. Deshalb schickten Sie uns auf die Goethe-Schule in Buenos Aires. Ich bin mit der deutschen Kultur großgeworden.
kultur.west: Wie sind Sie zum Tanz gekommen?
VOLPI: Das ist ein Mysterium. Ich bin morgens mit knapp vier Jahren aus dem Bett gesprungen und habe meiner Mutter erklärt, dass ich Balletttänzer werde. Ich kann mich nicht daran erinnern. Das haben mir meine Eltern so erzählt. Aber ich kann mich erinnern, dass mir die Schritte bei meinem ersten Training schon vertraut waren.
kultur.west: Aber irgendwo müssen Sie diese Bewegungen doch schon einmal gesehen haben?
VOLPI: Wir durften als Kinder kein Fernsehen gucken. Aber meine Großeltern hatten ein Radiogerät. Sonntags haben sie immer auf dem Tisch Gnocchi geknetet. Dann saß ich unterm Tisch und beobachtete das rieselnde Mehl. Sie haben im Radio immer nach Tangos gesucht. Und wenn Oper oder klassische Musik kam, bat ich, dass sie sie anließen. Das haben sie auch getan. Vielleicht hatte das einen Einfluss.
kultur.west: Wie konnten Sie die Schul- und die Ballettausbildung gleichzeitig schaffen?
VOLPI: Es war die Bedingung meiner Eltern, dass ich Abitur mache, bevor ich auf die Ballettakademie gehe. Deshalb erhielt ich mit zwölf Jahren die Sondergenehmigung, die Prüfungen für die achte, neunte und zehnte Klasse an einer normalen staatlichen Schule abzulegen. Ich habe mir den Lernstoff für die drei Klassen ganz alleine innerhalb eines Jahres angeeignet und die Prüfungen bestanden. Danach durfte ich in Toronto die Ballettakademie mit angeschlossenem Internat besuchen. Mit 16 Jahren habe ich dort das High-School-Diplom gemacht.
kultur.west: Respekt. Warum sind Sie dann noch nach Stuttgart auf die John-Cranko-Schule gegangen?
VOLPI: Sein tanzhistorisches Werk hat mich einfach fasziniert. Ich wollte seine Ballette selbst sehen und tanzen.
kultur.west: Nun sind Sie beim Ballett am Rhein angekommen. Welche Vision haben Sie für das Ensemble?
VOLPI: Mein Traum wäre, dass Düsseldorfer/Duisburg eine Talentschmiede für choreografische Sprachen wird, also dass der neue Kylián, der neue Forsythe oder Neumeier hier entdeckt werden. So wie viele der großen Choreografen der letzten 50 Jahre aus Stuttgart gekommen sind.
Der mehrfach ausgezeichnete Demis Volpi erhielt seine Tanzausbildung in Buenos Aires, an Canada‘s National Ballet School in Toronto und an der John Cranko Schule in Stuttgart. Anschließend tanzte er im Corps de Ballet des Stuttgarter Balletts, für das er 2006 auch begann, zu choreographieren. Es folgten narrative wie abstrakte Arbeiten etwa für das American Ballet Theatre oder das Ballet de Santiago de Chile. Seit 2014 hinterfragt Volpi die Grenzen des Theatergenres auch als Opernregisseur.
Ab 12. Dezember zeigt Volpi »Geschlossene Spiele« im Düsseldorfer Opernhaus.