Ein Zeit- und künstlerischer Bundesgenosse des Malers Christian Schad war Heinrich Harry Deierling, als Amerikaner 1894 in Philadelphia geboren und 1989 in Berlin gestorben. Sein »Selbstporträt im Spiegel« hing vor kurzem in einer Ausstellung der Berliner Nationalgalerie. Entstanden 1929, zur nämlichen Zeit, als Erich Kästner seinen vor die Hunde gehenden »Fabian« ersann, gehört es – so der Titel der Schau – zur »Surrealen Sachlichkeit«, was ein Widerspruch in sich zu sein scheint. Wir sehen ein länglich schmales Gesicht, fast einen Giacometti-Kopf, mit großen blauen Augen, die entschlossen, vielleicht etwas erschrocken, sehr offen, weich, aber eindringlich schauen.
Unkonventionell, widerspenstig
Das passt für Kästners Untergeher aus Berlin: das lässig Unkonventionelle und Widerspenstige, das lieber Nebenwege einschlägt statt der Erfolg verheißenden Hauptstraße folgt. Ja, und passt ebenso zu André Kaczmarczyk, der in der neuen Saison diese Figur verkörpern wird und sich auch nicht heimisch fühlt in der schematisch funktionierenden Welt: weder früher im provinziellen Thüringen und Sachsen (in Dresden habe er viel Herzenswärme angetroffen, auch wenn ihm die Stadt vorkam »wie eine Tante, zu der man zum Kaffee geht«) noch in der kleinen Großstadt Düsseldorf, die in ihrer alt-bundesrepublikanischen Moderne fixiert scheint. Nicht erst hier, im Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses, wohin er mit dem ihm lange verbundenen Wilfried Schulz aus Dresden kam, hat er begonnen, anscheinend leichthin »eine kleine Tüte Ehrgeiz zu säen«, wie es bei Kästner heißt. Die Saat ist aufgegangen. Kaczmarczyk geriet einem sogleich in den Blick. Man ahnt den Feinstoff. Etwas Besonderes, unabhängig von der Qualität der einzelnen Inszenierung, zuweilen fast im Sich-Stemmen gegen sie.
Beseelter Fürst
Als Graf Wetter in Kleists Rittertraum »Käthchen« wirkt er – an sich irre werdend wie der Prinz von Homburg – noch im ruppigen Wüten zartbesaitet und somnambuler als selbst das Käthchen (Lieke Hoppe). Als Enkidu im »Gilgamesch-Epos« ließ er einen Charakter sehen, der sich dem schlammigen Sandkasten-Spektakel so gut als möglich zu entziehen wusste. Ebenso in der aus Dresden mitgebrachten Produktion von Dostojewskis »Der Idiot«. Sein beseelter Fürst Myschkin zeigte porzellanenes Wesen und kostbare Substanz, ohne dass – jenseits von ihm – der Eindruck einer Salonkomödie zu überwinden gewesen wäre. Man denkt bei seinem Spiel nach über die Mischverhältnisse von Weichheit und Härte und erkennt, dass das Anmutige und Fragile nicht schwach sein muss. Der Muskel dafür sitzt nur woanders als im geistlosen Fleisch. Er spielt, wie wenn ein Maler eine klar gezogene Linie verwischt und sanft ins Hell-Dunkel konturiert, dass mehrere Umrisse vorhanden scheinen.
An einem der ersten Häuser engagiert
Da ist jemand mit seinem Talent nun an einem der ersten Häuser engagiert, überlegt der außenstehende Betrachter und erinnert sich an Verse des Prinzen aus Lessings »Emilia Galotti«, der seinem Berater Marinelli gegenüber abwehrt: »Mit Euern ersten Häusern! – in welchen das Zeremoniell, der Zwang, die Langeweile und nicht selten die Dürftigkeit herrscht.« Was tun in der Zusammenarbeit mit einem faden oder flausenhaft-konfusen Regisseur? Widerständigkeit entwickeln! Kaczmarczyk, der bei dem Thema Diskretion, Loyalität und Stillschweigen wahrt, sagt, man müsse »ausblenden« können, wenn es mal auf den Proben nicht funktioniere, müsse sich anders und auf sich konzentrieren.
»Theater lebt vom Konflikt.«
Wer wie Kaczmarczyk persönlich eine Menge durchzustehen hatte, kann auch im Beruf standhalten. »Es muss keine Arbeitsgefährdung bedeuten, wenn man sich streitet. Ich habe kein Problem damit, mich zu entschuldigen, wenn ich was Dummes oder Falsches gesagt oder getan habe.« Mit Nett-Sein jedenfalls sei es nicht getan: »Theater lebt vom Konflikt.« Matthias Hartmann zählt gewiss nicht zu den Konflikt-Vermeidern (mit ihm sei es bei »Der Idiot« ein längerer Kampf im Stummfilm-Modus gewesen, danach ging es), der freundliche Schweizer Roger Vontobel schon eher: Aber einmal »sprang kurz bei uns beiden die Klinge auf« während der Arbeit zu Huxleys »Schöne neue Welt«; und es entstand produktive Reibung. Für Bob Wilson hegt er Achtung, auch wenn Rituale und Entourage um den Meister her bei »Der Sandmann« schon denken ließen an die sonnenkönigliche Hofhaltung von Versailles. Indes: »Wilson weiß, wovon er spricht, auch weil er selbst performt und auf der Bühne steht.«
Geld gegen Glück und Liebe
Also dann doch selbst eine Sache anpacken – wie die Revue »Heart of Gold«, die den Warencharakter und Fetisch Geld gegen Glück und Liebe in Songs abwiegt. Die Aufführung unter Kaczmarczyks Leitung mit acht ebenfalls fabelhaft singenden Kollegen und drei Musikern animiert die Leute zu Ovationen. Er selbst – ein paar Gramm Rio Reiser, eine Kante Brit-Pop-Candy, ein Hauch Shirley MacLaine – gibt sich sophisticated. Und rückt seinen Auftritt in die Kategorie »campy«, bezogen auf das ästhetische Programm Camp, das in Susan Sontags legendärem Aufsatz die »Betrachtung der Welt unter dem Gesichtspunkt des Stils« meint. Unter diesem Vorzeichen fiel auch seine Wahl auf einen Song aus Walt Disneys »Arielle«, mit rührend kindlich-schalkhafter Emphase vorgetragen, wenn die Meerjungfrau die Menschwerdung herbeisehnt und fantasiert »Dort lebt man anders als hier«. Während die Bühnen-Partner »lichterloh brennen«, wollte er »halt nicht so brillieren« und keine der Groß-Hymnen des Pop singen. Sacht mitschwingende Gefühls-Dosierung auch hier.
Hypes meidet er
Bitte nur keines der aufgesetzten »emotionalen Gesichter«. Er mag die Schlagermusik der 50er bis 70er Jahre, bei der sich bestenfalls »Unterhaltung und Ernst, Humor, gute Ironie, Blödsinn und kritisches Bewusstsein« träfen. Sein Freisinn fällt angenehm aus der Zeit. Rummel, Spektakel und Gedöns sind ihm ein Graus, Hypes meidet er. Der Scheue (»ich bin tendenziell eher a-sozial«) empfindet Abscheu. Dass das Herzens-Projekt in Düsseldorf möglich war, freut ihn. Es könnte mehr draus werden, auch wenn allgemein in Deutschland eher »Misstrauen und Skepsis als Offenheit« spürbar sei, wenn ein Schauspieler noch anderes will (»Wieso? Ist der nicht ausgelastet?«) und die Sorge bestehe, »das Pferd reitet vom Hof«.
Am Eisenacher Karlsplatz
Wir sitzen am Eisenacher Karlsplatz mit dem Luther-Denkmal. Kaczmarczyk wundert sich aus dem Abstand seltener Besuche, dass es hier »so alt und leer« aussieht. Zitiert die Heilige Elisabeth und den Reformator mit beider Urteil über die bedrückend geistige Enge ihrer Untertanen und Mitbürger. Nach vielen Gesprächsstunden resümiert der 1986 in Suhl geborene André Kaczmarczyk seine Jugendjahre: »Ich dachte, ich bin falsch.« Doch hat er die lange für ihn geltende Überzeugung ins Positive gewendet und offensiv umgemünzt: »Okay, ich bin falsch!« Sich mit ihm zu unterhalten, heißt Zeuge zu sein in einem Prozess, immer auch das Andere bei sich zuzulassen.
Am Fuß der Wartburg
Die Frage bleibt, inwieweit Herkommen einem eingeschrieben ist über das rein Biografische, arge Erinnerungen und die Erfahrung von Ausschluss hinaus, auch durch landschaftliche Einbindung und ein soziales Klima, das den Vorbehalt begünstigt. Jedenfalls ist es eine Geste des Vertrauens, einen Fremden – mithin Öffentlichkeit – daran teilhaben zu lassen und den Blick ins eigene Vor-Leben zu gewähren. Am Fuß der Wartburg warten wir auf den Bus. Gegenüber liegt das Café Balance: Treffpunkt für André Kaczmarczyk – damals in Rollkragen und Cordhosen – und »alle anderen Misfits und Ausgestoßenen« während der abgewickelten frühen Neunziger. Abgewickelt worden war auch die Schauspielsparte am Eisenacher Theater. Auf dem Mälzerei-Gelände gründete sich die Gruppe »Freies Eisenacher Burgtheater«, die auch viel Jugendarbeit gemacht habe. »Das war meine Rettung.« Wovor? Vor den »dunklen Jahren« in der Familie. »Bei uns hat man weggeguckt.« Etwa, wenn er blaue Lackschuhe aus dem Fundus trug. Immerhin, »man hat es zugelassen«. Verhaltensauffällig ist auch, wer in Düsseldorf Schwarz als alternativen Ich-Entwurf und nicht als Theater-Dress-Code trägt und, wenn ein Saint-Laurent-Jackett, dann Second Hand aus den 80ern. Unter fancy versteht sein »dirty taste« etwas anderes, als das Männermagazin GQ empfiehlt.
In der Rolle des schwarzen Schafs
Der aus Polen stammende Vater war irgendwann zurückgegangen. Nach der Trennung der Eltern fand die Mutter jemand Anderen. Andrés Stiefvater – »eine typische DDR-Nachwende-Absteiger-Geschichte« – ertränkte den Verlust der Selbstachtung in Alkohol und kompensierte Frustrationen durch Gewalt. Opfer war der Halbwüchsige, scheinbar Idealbesetzung für die Rolle des Schwarzen Schafs. Das Leiden kann »totalitär« sein, schreibt Edouard Louis. Kaczmarczyk hat dessen Buch »Das Ende von Eddy« gelesen, das nicht in Thüringen, sondern in der französischen Picardie spielt und ein nicht unähnliches Schicksal erzählt – mitsamt der Wunder nehmenden Befreiung.
»Verstellung und Verwandlung sind meine Heimat.«
Leidensgeschichte ist, geht es günstig aus, auch Erkenntnisgeschichte. Als wir im Hof der Wartburg stehen, wo Luther Schutz fand vor dem Zugriff des Kaisers, wobei die Anlage nicht zufällig Vorbild abgab für Neuschwanstein des Königs Ludwig, dem Baumeister seiner Träume und Wolkenkuckucksheime, stellt André Kaczmarczyk einen Vergleich an. Luther sei hierher, in seine Schulstadt Eisenach, »zurückgekehrt als Kunstfigur, verkleidet als Junker Jörg« – das träfe sich. Eine Schlüsselerfahrung. »Verstellung und Verwandlung sind meine Heimat.« Gemeint nicht als Verfälschung, sondern als fluides Sein. Als Rollenspiel, um der Falle der Eindeutigkeit zu entgehen und die Forderung des Tages zu bestehen. Masken verbergen nicht, sie offenbaren.
Deshalb interessiere ihn Theater auch als »soziologischer Raum«. Zu Zeiten haben ihn Gender-Studies beschäftigt, Konzepte, Konstellationen und Differenzen, Wirkungsmechanismen, Muster und Möglichkeiten jenseits von Konvention und Normierung: Wann ist ein Mann ein Mann? Der biologische Tatbestand tritt hinter dem sozialen und hinter kulturelle Praxis zurück. Wie ungreifbar, wie herausfordernd ist Identität, wenn die Wesensart ins Offene strebt! Fast jubelt er über die irritierende »Lust, alles sein zu können, aber nicht du selbst sein zu müssen«. Das Ich – »auf einer Insel, die weit draußen im Wasser liegt«, so Ingeborg Bachmann – bewegt sich elegant im Einer.
An der Ernst-Busch-Schule
Was Klassen- und Milieu-Zugehörigkeit mit einem anstelle, habe er wiedergefunden in Didier Eribons vieldiskutiertem Buch »Rückkehr nach Reims« – Schilderung einer Fortbewegung, die auch er vollzog. Aus Instinkt und Notwendigkeit. Niemals mehr »zurückgebombt« werden in ein Niemandsland, das individuelles Empfinden ausbürgert und Zwischenzustände verpönt. Nachdem er zuhause ausgezogen und das Abitur gemacht war, bewarb er sich an der Ernst-Busch-Schule in Berlin. Nur dorthin wollte er. Die erste Adresse für Schauspiel ließ ihn nicht warten. Nach einer (Nie-wieder-)WG-Erfahrung zog er in den roten Wedding. Er wollte »den Beruf wie ein Handwerk lernen. Nicht, um mich selbst zu finden. Es ging nicht so sehr um dich. Es ging um das, was du nicht bist, um dich daran zu wagen.« Im Stillen dachte er: »Hier in der Schule ist so ein bisschen die strenge russische Ballett-Lehrerin zu Hause. Mich hat das nicht abgestoßen. Ich wollte diese Formung. Vielleicht auch, um sie zu unterlaufen oder anders zu verwenden. Der Vorwurf ist ja oft, die ›Buschis‹ seien nicht heiß genug als Schauspieler.« Ungemein virtuos, versiert, perfekt. Alleskönner. »Dir wird ein gewisser Kampfgeist antrainiert und Kondition.«
Nach der Ausbildung folgt oft genug der Absturz – ins Konkrete des Theateralltags. Der Absolvent (2009) traf die für sein Institut etwas überraschende Entscheidung, zunächst frei zu arbeiten, ohne sich gleich an eine Top-Adresse zu verpflichten, wie es für die Berliner Champions Usus ist. Emphase und Erschütterung kann jemand vermissen, auch ohne mit dem gleichfalls 30-jährigen Simon Strauß sündhafte »Sieben Nächte« zu durchwachen. Wobei sich diese Zustände im Kino etwa eines Xavier Dolan eher erfüllen als auf dem Theater. »Heilige« Intensität und Inbrunst wünscht sich André Kaczmarczyk, der sich über »Schauspielbeamtentum« mokiert und, wenn es nur um ihn selbst ginge, den Begriff »Ruhezeit« gar nicht hören will. Er will spielen, immer. Die blauen Juwelenaugen, die dazu neigen, seitwärts abzugleiten, blitzen. ›Menschenskind‹ will man in einem Ton ausrufen, wie ihn Kästner seinem Fabian gegenüber anschlägt, angesichts einer Lebensgeschichte, die sich aus schlimmen Erfahrungen gelöst, ja erlöst hat, wofür es nie Garantie, nur das Luther-Wort Gnade gibt. André Kaczmarczyk antwortet darauf mit: »Gotteskind«, um – nicht allein im Rekurs auf den Fürsten Myschkin – der Rettung eine Spur Transzendenz einzuziehen.