INTERVIEW: NICOLE STRECKER
Das Konstanteste an Richard Siegal ist vielleicht die Wollmütze auf seinem Kopf, sein choreografischer Stil jedenfalls ist es nicht. Siegal als Schöpfer durchgeistigter Selbsterforschungs-Soli, als Organisator einer missionarischen Tanzparty, bei der er selbst als »Co-Pirate« und Super-Plagiator kopierend zwischen indonesischen Fächertänzerinnen, Hip-Hoppern und greisen Swing-Tänzerinnen herumtanzt. Und Siegal als hochbegabter Stadttheater-Choreograf, der die Tanzakademik in die Gegenwart kickt.
Tanzen ist Denken und Forschen – das Credo von William Forsythe gilt offenbar auch für Siegal, der sieben Jahre lang Mitglied beim Ballett Frankfurt war. Für die Ruhrtriennale erarbeitet er erstmals eine Trilogie. Das Auftaktstück: »Model«, choreografiert für das Bayerische Staatsballett und die Tänzer seiner Kompanie »The Bakery«.
K.WEST: Ausgangspunkt Ihrer Arbeit wird Dante Alighieris »Göttliche Komödie« sein. Dann geht es also erst mal in die Hölle?
SIEGAL: Johan Simons wünscht sich eine Trilogie von mir während seiner drei Jahre als Intendant. Deshalb habe ich nach einer Form gesucht, mein Denken zu strukturieren, so kamen ich und der Dramaturg Tobias Staab auf die Idee, Dante zu folgen in der Reihenfolge: Inferno – Purgatorium – Paradies. Ich versuche aber nicht, dieses große Werk der Literatur narrativ zu inszenieren. Es funktioniert als dramaturgische Basis.
K.WEST: Und Ihre Hölle?
SIEGAL: Eine Antwort darauf gibt die Musik von Lorenzo Bianchi. Sie ist sehr aggressiv, fast gnadenlos, manchmal sogar sadistisch. Bei mir löst die Idee von Hölle nicht viel Resonanz aus. Das christliche oder auch Dantes Konzept hat in meinem Leben keine Bedeutung.
K.WEST: Aber Sie haben mal Theologie studiert.
SIEGAL: Okay, vielleicht haben Sie recht: Einer der Gründe, weshalb ich mich für Dante entschieden habe, war zu verstehen, was mich vor über 20 Jahren bewogen hat, Theologie zu studieren. Heute interessiert mich eine Idee von der Hölle, älter als die mittelalterlichen Konzepte. Eine Art Ur-Hölle, Emotionen wie Wut und Leiden, die ein Konstrukt wie das Christentum überhaupt erst motiviert haben.
K.WEST: Also eine Art Psychohölle? Aber im Tanz geht es immer auch um Körperbilder. Kann der Körper eine moralische Instanz sein?
SIEGAL: Der Abend beginnt mit dem 2014 entstandenen »Metric Dozen« als Art Gegenpart zu »Model«. »Metric Dozen« untersucht, welche Spannungen entstehen, wenn der Körper reglementiert wird. Wenn uns die Gesellschaft vorschreibt, wie Männer sein sollten und wie Frauen, und unsere natürliche Sexualität mit dem sogenannten Gender in Konflikt gerät, der Körper also mit gesellschaftlichen Normen kollidiert. »Metric Dozen« zeigt Männer, die ihren Körpern zugestehen, feminisiert zu sein. Ihnen dabei zuzusehen, ist befreiend.
K.WEST: Sind wir dann nicht schon im läuternden Purgatorium?
SIEGAL: Diese Performance ist tatsächlich kathartisch. Aber zur Frage: Ist der Körper moralisch? Für mich, nein. Der Körper ist Materie, aber Moral wird ihm übergestülpt. Moral ist ein soziales Konstrukt; alle Ideologien manifestieren sich auch im Körper. Der Tanz kann diese Ideologien hinterfragen, den Diskurs vorantreiben, wie Körper sein sollen oder können – das ist eine moralische Frage.
K.WEST: Wird es wieder Spitzentanz geben?
SIEGAL: »Model« ist Spitzentanz, klar. Ich liebe es, mit der Kompetenz von anderen zu arbeiten, egal ob Balletttänzer oder Volkstänzer, jedes Wissen ist potentiell Material für Choreografie. Die Tänzer vom Bayerischen Staatsballett sind außerordentlich kompetent im Umgang mit Spitzenschuhen, sie sind in ihnen zu Hause.
K.WEST: Bei Dante spielt Zahlensymbolik eine große Rolle. Das deckt sich mit Ihrem Interesse an der Mathematik…
SIEGAL: Es scheint bei Dante eine Art kabbalistischer Zahlen-Mystik zu geben. Das Werk ist Dichtung, also gibt es Rhythmus und damit notwendig Mathematik. Mein Interesse an Mathematik ist nicht so mystisch wie bei Dante. Mich interessieren auch algorithmische Operationen, Programmierung, nicht zu einem bestimmten Zweck, sondern wegen des Programmierens selbst.
K.WEST: Ist es die Schönheit der Mathematik, die Sie fasziniert?
SIEGAL: Sie ist wunderschön. Gibt eine Vorstellung von Ordnung, Vernunft in einer Welt, die so anfällig für Absurdität ist.
K.WEST: Sie haben eine choreografische Praxis entwickelt: die »If-then-Methode«. Wenden Sie die auch hier an?
SIEGAL: Bei dieser Methode ist die Beziehung zwischen Gesten wichtiger, als der Inhalt der Gesten. Es findet keine Bewertung der Gesten statt. Im Kern geht es um beobachtbare, wiederholbare Phänomene. Um die Prinzipien, wie Informationen von einem Körper zu einem anderen übermittelt werden. Es ist pure Forschung, mehr wissenschaftlich als künstlerisch. Ihre Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Solange sie zu mir spricht, werde ich sie anwenden.
K.WEST: Sie bespielen das Salzlager auf Zollverein. Darin gibt es die begehbare Installation »The Palace of Projects« des Künstlerpaars Kabakov. Problem oder Potenzial?
SIEGAL: Alles, was man auf die Bühne stellt, kommuniziert. Und trifft eine Aussage. Die Architektur des Raums, die Installation, die Geschichte des Gebäudes, des Geländes – all das liefert Kontext, auch wenn ich die Themen nicht aktiv verfolge. Aber es gibt einen interessanten Aspekt: die Kokerei als Ort von Feuer, Asche, brutaler Schufterei, und die Leiden, die damit einhergingen. Ein sehr passender Raum für diese Arbeit.
K.WEST: Sie waren von 1997 bis 2004 bei William Forsythe. Jetzt sind Sie für den Rest Ihres Lebens »Ex-Forsythe-Tänzer«. Ist das ein beengendes Etikett für den Choreografen?
SIEGAL: Es gibt nun mal den Mechanismus, dass man das Neue mit dem Bekannten vergleicht. Deshalb vergleicht man meine Arbeit mit der von Bill. Bill war einfach das richtige Genie zur richtigen Zeit. Wer als Tänzer in seine Nähe kam, wurde in seinen Orbit gezogen, was auch bedeutet: Der »Ex-Forsythe-Tänzer« öffnete mir Türen, als ich als Choreograf anfing. Ich musste nur sagen: »Ballett Frankfurt« und bekam ein Treffen. Dafür bin ich dankbar. Zudem würde ich wetten, als Bill in den 1980er Jahren anfing, hatte er am Vergleich mit George Balanchine zu leiden. Glenn Gould spricht von der Kunst als einer Kultur eher der Modifikation als der Neu-Erfindung. Es ist relativ neu, dass wir der Innovation eine so große Bedeutung zuschreiben. Früher wurde die Bedeutung der Imitation und Modifikation im kreativen Prozess wertgeschätzt. Heute wird das abgetan, aber eigentlich ist das die Art, wie Menschen lernen. Letztlich beschäftigt mich heute dasselbe wie andere Choreografen auch, einschließlich Bill.
K.WEST: Und das ist was?
SIEGAL: Ich bin immer noch besessen vom menschlichen Bewegungspotenzial. Seit einiger Zeit kehre ich zurück zu Fähigkeiten, die ich in New York gelernt habe, bevor ich nach Frankfurt kam. Damals habe ich mit absolut jedem Choreografen gearbeitet, der mich wollte. Ich war gierig nach Stilen, war wie ein Schwamm und wollte vom klassischen Ballett zu Capoeira, HipHop, Release Technik, Cunningham, Graham, Limón, einfach alles aufsaugen. Das kommt heute stark zurück.
»Model«: Choreografie, Konzept, Video und Bühne: Richard Siegal 15., 16., 21., 22. August; Salzlager, Welterbe Kokerei Zollverein. Eine Produktion der Ruhrtriennale in Koproduktion mit dem Bayerischen Staatsballett und dem Festspielhaus St. Pölten in Zusammenarbeit mit der Muffathalle München und CCN Montpellier.