Diesmal ist es das Herz. Kein Stechen, ein sanft er Druck liegt auf der linken Brust, notiert Uwe Timm am Ende seines neuen Buches »Der Freund und der Fremde«. So, dass es spürbar wird. In »Am Beispiel meines Bruders«, seiner unerbittlich distanzierten und dabei so feinfühligen Annäherung an den im Krieg als Mitglied der SS-Totenkopfdivision gefallenen großen Bruder, tränten ihm die Augen. Unerträglich brennende Schmerzen, nicht aus Scham oder Wut, nein, hervorgerufen durch einen Hornhautabriss, so heißt es dort, der es ihm zeitweise unmöglich machte, die Berichte von KZ-Insassen zu lesen. Nun, während der Beschäft igung mit dem Studienfreund Benno Ohnesorg, hinterlässt der Erinnerungsprozess also wieder eine körperliche Spur, dort, wo für Jahrhunderte das Zentrum der Gefühle vermutet wurde. Ist das Andenken an den Freund, der am 2. Juni 1967 auf einer Demonstration gegen den Schah-Besuch in Berlin von einer Kugel tödlich getroff en wird, eine Herzensangelegenheit? Von Christa Ohnesorg, der Witwe, erfährt Timm, dass Benno mit ihm am Ende gehadert habe. Dieser späte zweite Verlust des Freundes, die beschädigte Erinnerung an eine vermeintlich ungetrübte Beziehung, treibt die Vergegenwärtigung als erneute Trauerarbeit voran. Timm spricht mit der Frau, die auf einem der Fotos neben dem sterbenden Ohnesorg kniet, steht vor der Haustür des Polizisten Kurras, der den Freund damals aus »putativer Notwehr« erschoss, kann sich aber nicht entscheiden, zu klingeln. Dieses Durcharbeiten des Vergangenen ist nicht allein deshalb so heillos, weil Erklärungen ihm nicht mehr zu Hilfe kommen können. Denn Christa Ohnesorg stirbt, bevor Timm sie nach dem Grund des Haderns hätte fragen können. Es verschafft vor allem kaum Erleichterung, weil die Verlebendigung durch den Blick zurück gefährdet wird.
Die Größe des schmalen Bandes besteht nicht zuletzt darin, dass Timm sich dieser Vergeblichkeit sehr wohl bewusst ist und sie leitmotivisch immer wieder am Mythos von Orpheus und Eurydike thematisiert: »Erinnern führt ins Innere. Im französischen rappeler steckt noch etwas von dem, was der Orpheus- Mythos sagen will, dieses Zurückrufen des Vergangenen, des Toten«, heißt es am Ende. Diese Erweckung durch Gesang endet bekanntlich im Moment des Zurückblickens in einem zweiten Verlust.
Entreißen muss Timm den Freund deshalb der ikonographischen Vereinnahmung durch die übermächtige kollektive Erinnerung, die wie das berühmte Foto des Sterbenden die Vergangenheit zur Starre gebannt haben. Dem setzt er ein sehr innig gezeichnetes Bild Benno Ohnesorgs als das eines politisch zurückhaltenden, in sich gekehrten Menschen und regelmäßigen Kirchgängers entgegen, das Kontur durch blitzartig hereinbrechende Erinnerungsfetzen bekommt. Und das einer Freundschaft , die ganz und gar auf Bücher gebaut ist, sich aus dem Wunsch speist, mit weltanschaulicher Hilfe des französischen Existentialismus zusammen aus der moralischen Enge der 60er Jahre auszubrechen. Dennoch ist »Der Freund und der Fremde« weit davon entfernt, im Exemplarischen aufzugehen. Der Freund Benno Ohnesorg ist mehr als nur eine Figur der jüngeren Zeitgeschichte, er ist in Anlehnung an Albert Camus gleichnamigen Roman als »Fremder«, niemals Auszudeutender, Gegenstand einer sehr intimen Verlusterzählung.
Uwe Timm: Der Freund und der Fremde; Kiepenheuer & Witsch, 2005, 176 Seiten, 16,90 €