TEXT: ANDREAS WILINK
Die Fähigkeit zu Bindung, das Gefühl der Zugehörigkeit und Zuversicht: Wer diese Grundausstattung hat, wird sich womöglich erfolgreich(er) einpassen ins emotionale und soziale Gefüge. In seiner Autobiografie schreibt der britisch-jüdische Neurologe Oliver Sacks, er habe sein Lebtag Schwierigkeiten gehabt mit jenen drei großen B’s – mit Bonding, Belonging and Believing. Dieses selbst diagnostizierte Defizit würde Sacks prädestinieren, Mitglied der holländisch-jüdischen Familien von Lea und Nico zu sein, die Judith Herzberg Hochzeit feiern lässt in ihrem Stück, dem ersten, 1982 uraufgeführten der Trilogie mit »Heftgarn« und zuletzt, 2002, dem in Düsseldorf herausgebrachten »Simon«.
Erbe und Erinnerung lasten schwer. Leas dritte Hochzeit, nun mit dem Arzt und Therapeuten Nico, nachdem sie mit Daniel und er mit Dory verehelicht waren und im Guten voneinander getrennt wurden. Die Eltern-Generation – wir sind in den 1970er Jahren – hat, so sie überlebte, der Holocaust nachhaltig geprägt. Eine Gnade der späten Geburt für die Nachkommen gibt es auch nicht. Lea (Therese Dörr) hieß bei ihren Pflegeeltern Lieschen, nachdem das kleine Kind zu Riet gegeben wurde, bevor man die Eltern deportierte. Sterben oder im Stich gelassen werden, was ist schlimmer?, fragt sie als Braut ihren Vater. Nicos Mutter und Bruder kamen in den NS-Lagern um. Mama Riet (Katharina Linder) war mutig, hilfreich und gut, aber auch egoistisch und besitzergreifend. Und ist es noch.
Aber heute soll ein fröhlicher Tag sein. Das ganze Programm, zeitgenau nachgestellt: Minis, Feincord, Schlaghosen, Koteletten und toupiertes Haar. Eine Leinwand wird hochgezogen, um die Hochzeiter auf Super-8 bei ihrer Ankunft in der Limousine und dann bei der Einkehr in den Festsaal und später bei allem möglichen Amüsement zu filmen. Aber immer nebenan, unsichtbar, außer für das Auge der Kamera. Denn der Spielplatz, auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele (Maze de Boer), ist ein Zwischenraum – das Foyer mit Schwingtüren, schmalen hohen Fenstern, Holz-Paneel und rotem Teppichboden. Von fern spielt eine Hammondorgel das Standardrepertoire. Zwischen Dabei- und Nicht-dabei-Sein. Von einer Balustrade kann man einander belauschen, in der Wandelhalle kann man sich vermeiden, sich wie zufällig über den Weg laufen, Haltung wahren oder Contenance verlieren. Ort für eine Durchgangsgesellschaft und in einem weiteren Sinn: für Menschen ohne festen Grund in sich und in der Welt.
Manchmal zieht eine Härte über die Gesichter, wie bei Dory (Bettina Engelhardt), Nicos erster Frau, die nach dem Krieg im Waisenhaus aufwuchs. Manchmal übermannt jemand eine Steifheit (wie Jürgen Hartmann in der Rolle von Nicos Vater), als schaue er auf das gefrorene Meer in sich. Lockerheit und Betreten-Sein haben eine Wurzel. Ein Satz kann entlarvend sein. Wenn Riet von einem französischen Kinofilm über Judenverfolgung erzählt, rutscht es ihr raus: »Er war überhaupt kein Jude, er war vollkommen unschuldig«. Hochzeitsgast Daniel (Torsten Flassig), der als fantastischer Luftikus und elastischer Pausenfüller gleichermaßen Brücken wie Barrieren baut, trägt die Anweisungen vor, denen damals jüdische Eltern Folge leisten sollten, um jede Spur ihrer Kinder zu verwischen, um ihr Leben nicht zu gefährden.
»Leas Hochzeit«, die 1982 uraufgeführte, alterslos gebliebene, große, kleine Szenenfolge über Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Juden und Nichtjuden, zerrissene Familien, das mögliche oder unmögliche Vernähen von Wunden und Identitätsbrüchen, wird von Eric de Vroedt mit einem phänomenal harmonischen Ensemble federleicht inszeniert zwischen Session und Sonate, Hava Nagila und Requiem. Es ist ein Fest der Lebenden und der (unsichtbaren) Toten, vor allem für Ada (Anke Zillich), Leas Mutter, für die sich die nie ganz verschlossene und verschließbare Tür in die Vergangenheit unversehens öffnet, wenn sie nur in der Straßenbahn sitzt, zwei Kontrolleure auf sie zukommen – und sie die alte Mordlust spürt. Wie könnte da Zuversicht entstanden sein?