TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
An diesem Mittwoch Ende September wird in Shanghai wie in ganz China das Mondfest gefeiert: eines der wenigen Feste mit uralter mytho-logischer Tradition, das nicht, wie viele jüngere Feiertage, auf die kommunistische Führung einschwören will. Ganz Shanghai ist auf den Beinen, bevölkert Parks und Einkaufszentren (denn nie schläft im modernen China der Kommerz), verspeist süßfettige Mondkuchen oder riesige Zitrusfrüchte. Wer in den Strudel gerät, den reißt es mit als Teil jenes Ameisenheeres, das durch Hochhausschluchten und Shopping-Malls geschleust wird, vorbei an den Kaufhäusern der Nanking-Straße bis zum Bund: der berühmten Uferpromenade am Huangpu-Fluss, wo man die Herrlichkeit der Kolonialbauten im Rücken und die architektonischen Monster der Geschäftsstadt Pudong gleißend vor Augen hat.
In Shanghai ist alles im Fluss, das Stadtgebiet eine amöbenhaft sich wandelnde Masse, die mit der Bauspekulation und den wandelbaren Bedürfnissen der Bevölkerung täglich ihr Gesicht ändert. Die flachen alten Viertel mit den baufälligen Hütten, abenteuerlichen Gerüchen und lebendigen Gesichtern werden weniger, man empfindet sie als Schandflecken einer (wieder einmal!) auf Erfolg gepolten Gesellschaft. Die Zierde des Erfolgs bildet seit dem offiziellen Ende der so »Kulturrevolution« von 1976 eine Ausbildung in westlicher klassischer Musik. Wer es sich leisten kann, kauft seinem Kind – denn offiziell duldet die Ein-Kind-Politik seit den 80er Jahren nur einen Nachkommen – ein Klavier oder eine Geige.
»Nach Maos Tod erlebte China einen wahren Ausbruch an Begeisterung für die klassische Musik – das war wie ein Frühling nach Jahren der kulturellen Eiszeit«, sagt der aus Shanghai stammende, in Peking arbeitende Musikkritiker Rudolf Tang. Er wisse aus Erzählungen, »welchen Jubel gleich nach Maos Tod das Gastspiel von Seiji Ozawa mit dem Boston Symphony Orchestra auslöste. Seitdem ist der Strom der ausländischen Orchester nicht mehr abgerissen«.
Im Gegensatz zum 30-jährigen Tang hat Shen Cinong – als Musikkritiker und Senior Editor der einflussreichen Xinmin Evening News eine respektable Figur in der Kulturszene von Shanghai – die äußeren und inneren Zerstörungen der Kulturrevolution am eigenen Leib erlebt. Weil ihm damals sein Klavier zerschlagen wurde und westliche Musik verteufelt war (eine Ausnahme bildete Beethoven, weil angeblich Lenins Lieblingskomponist), hat Cinong nach dem Ende der Mao-Herrschaft sofort wieder mit dem Piano begonnen und sich eine mächtige Plattensammlung angelegt. Mit Vorliebe Instrumentalmusik: Sinfonien, Kammer- und Klavierwerke.
Die westliche Oper dagegen ist ihm und seinen Landsleuten weniger vertraut: Die Stoffe wirken trotz ihrer Nähe zu den Soap Operas im chinesischen Fernsehen zu kompliziert, als Prestigeobjekt für die Erziehung des Nachwuchses taugt die Oper weniger als der Klavierunterricht. Die wenigen festen Häuser in Shanghai, Peking oder Hongkong leisten sich jährlich höchstens vier Produktionen.
Kölns Opernintendant Uwe Eric Laufenberg und sein Musikchef Markus Stenz lassen sich von solchen Anfangsbedenken nicht schrecken. »Der chinesische Markt ist anders als der koreanische oder der japanische noch jungfräulich«, sinniert Laufenberg in seinem nagelneuen Anzug, den er sich in Shanghai für umgerechnet 70 Euro hat schneidern lassen. »Aber der Markt ist da und der Hunger auch!« Zumindest verstanden es die Kölner Gäste, diesen Hunger zu wecken. Zweimal gastier-ten sie mit Wagners musiktheatralischem Fortsetzungskrimi »Der Ring des Nibelungen« im Grand Theatre von Shanghai, dreimal mit Mozarts »Don Giovanni« im National Centre for the Performing Arts in Peking. Zumal in Shanghai zeigte sich einmal mehr, dass der Mythenklitterer Wagner auch ferne Kulturen in Bann schlägt.
Die chinesischen Wanderarbeiter, welche die Riesen begleiten; die Verseuchung der Umwelt, die Regisseur Robert Carsen zum Grund allen Weltübels erklärt; schließlich die Megalomanie eines bombastischen Walhall, dessen Repliken täglich als Hochhäuser aus dem geschundenen Shanghaier Boden wachsen: All dies ist verblüffend für ein Publikum, das Jahrzehnte lang nur politische Indoktrinierung auf der Bühne gewohnt war. Erinnern nicht Wotans Machtgelüste und sein Scheitern an die Karriere von Mao Tsedong, der sich immer mehr von seinem Volk abkapselte?
Mit dreißig Containern und 300 Mitarbeitern waren die Kölner für drei Wochen ins Grand Theatre von Shanghai eingerückt – und gleich in die Mühlen der Hierarchen und Bestimmungen geraten. Bühnenwaffen und Brandpaste für den Walkürenfelsen mussten mit Engelszungen zu essenziellen Bestandteilen des Wagner-Kosmos erklärt werden; Schäferhunde wurden schließlich aus chinesischen Züchtungen bereit gestellt. Das Ergebnis der Wagner-Mission, die der deutschen EXPO-Präsenz hochkulturelle Weihen geben sollte, war dann über alle Erwartungen glanzvoll und von glühender Intensität. Markus Stenz schenkte der Tetralogie Feuer und Temperament, wie sie vor allem die Bewährung vor fremdem Publikum entzünden. Formgefühl und Leidenschaft, Genauigkeit und Mut zur Klangentfesselung waren eine brillante Visitenkarte des Ensembles.
Laufenberg war’s zufrieden. »Man kannte Köln«, so sei ihm gesagt worden, »nur als Parfüm und als Kirche. Dass die eine tolle Oper haben, die auf Weltniveau spielen kann, tat dem Image unseres Hauses ganz gut – dem Image der Stadt natürlich auch. Aber diese Stadt möchte ja ihr Image nicht verbessern.«
Man kann Laufenberg nicht verdenken, wenn er hin und wieder verbale Hiebe gegen die Stadt und ihre Schaukelpolitik in Sachen Opern-quartier führt. Noch schmerzt es den Intendanten, dass der Plan einer Renovierung der Oper samt Neubau des Schauspielhauses durch ein Bürgerbegehren gestoppt wurden. Dabei werden wohl beträchtliche Summen für bereits abgeschlossene Saalmieten von Ausweich-Spielstätten verloren gehen. Aufhebens macht die Stadt allerdings lieber von den 825.000 Euro, die die Oper für das China-Gastspiel aus finanziellen Rücklagen abzweigte, die einst der Geschäftsführende Intendant Peter F. Raddatz dem laufenden Betrieb abgespart hatte. Dass Laufenberg dieses Sparkonto nun für die Reise anzapfte, um dem Haus Prestige und Kontakte nach Asien zu verschaffen, kann man ihm kaum zum Vorwurf machen. Allerdings hätte er darauf bestehen müssen, dass die Oper nicht ganz ohne Gewinn heim kommt. Den schöpfte nämlich die chinesische Agentur ab.
So viel zu den rheinischen Lokaldebatten auf dem Außenkampfplatz China. Was die dortigen Besucher davon hatten? Zunächst das Live-Erlebnis einer hybriden, faszinierenden Kunstform namens Musikdrama, welche die meisten (zieht man ein »Ring«-Gastspiel der Nürnberg Oper in Peking ab) bisher nur von CDs kannten. Dass sie kenntnisreich waren, merkte man nicht nur während der Vorstellungen, wenn Familienväter ihren Anhang wortreich über die Handlung aufklärten oder Leitmotive hörbar mitsummten. Viele chinesische Wagner-Fans tauschen sich vor und nach der Aufführung im Internet aus und bringen zuweilen auch Sänger, die ihnen nicht zusagen, mit Buhsalven zu Fall; so geschehen beim dänischen Tenor Stig Andersen, der nach Missfallensbekundungen die Partie des Siegfried nach dem ersten Zyklus abgeben musste. Von italienischen Verhältnissen sind solche Aktionen einer militanten Anti-Claque nicht weit entfernt. So darf man guter Dinge sein, dass die Oper alsbald in China Fuß fassen wird.