Söhne haben es ja nie leicht. Auch nicht die von prominenten Vätern. Vielleicht haben gerade die es noch viel schwerer. Und dann gibt es noch die Söhne Willy Brandts, über den Rudolf Augstein einst sagte, er könne sich nicht vorstellen, mit jemandem befreundet zu sein, der niemals die Zimmer seiner Kinder aufsuche. Dass der Mann, den man gemeinhin zu den letzten Berufspolitikern aus Berufung zählt, sein Leben in den Dienst der Arbeit und ihrer Partei gestellt hat, ist hinlänglich bekannt.
Im persönlichen Umgang sei Willy Brandt bisweilen sehr schwierig gewesen, berichten Mitstreiter; Herz habe er gehabt, aber innig werden seine Beziehungen zu Freunden selten genannt. Er habe wie kaum ein anderer mit großen Menschenmengen umgehen können, dabei selbst aber eine außergewöhnlich ausgeprägte Scheu vor körperlicher Nähe gehabt. So die Beschreibungen, die dem Leser der Biografien immer wieder begegnen. Unberechenbar sei er bisweilen gewesen, ein Mensch, der auch enge Freunde auf Distanz hielt und das Private hintanstellte. Matthias, der jüngste der Brandt-Söhne, hat dem öffentlichen Bild seines Vaters im letzten Jahr noch hinzugefügt, dass er diesen früher als »emotional behindert« erlebt habe. All das ließe vermuten, dass es nicht immer einfach gewesen sein muss, Sohn Willy Brandts zu sein. Ob der wirklich so war, wie er geschildert wird, ist eine andere Frage. Doch ist es nicht die von Lars Brandt, des mittleren der drei Söhne. Lars Brandt hat ein schlankes Bändchen von gerade mal 156 locker bedruckten Seiten über den Vater und sein Verhältnis zu ihm geschrieben. Was aber nicht heißen soll, dass er nichts zu sagen hätte. Ganz im Gegenteil. Nimmt der Mensch Willy Brandt in »Andenken « doch viel mehr Gestalt an, als in manchen der aberhunderte Seiten starken Biografien.
Lars Brandt hat für sein »Andenken« keine davon gelesen. Auch nicht die zahlreichen autobiografischen Einlassungen des Vaters, der darin wenig bis überhaupt nicht über die Söhne geschrieben hat. Den »Begegnungen und Einsichten« (1976) darf man entnehmen, dass er in Lars »kritische Impulse eines Kulturradikalismus« sah. Nach dem Tod des Vaters 1992 hat Lars Brandt Abstand zur Willy- Brandt-Gedächtnismaschinerie gehalten. Seine Mutter Rut und Bruder Peter werden häufig in Danksagungen als auskunftsbereite Quellen aufgeführt. Lars wurde gar nicht erst befragt. Was ein wenig verwunderlich ist; schließlich erlebte der 1951 Geborene, – anders als der drei Jahre ältere Peter, der in Berlin blieb, als die Eltern 1967 umzogen – die Bonner Zeit der Brandts aus der Nähe und sehr bewusst mit. Doch Lars Brandt kümmert nicht weiter, dass man ihn in dieser Hinsicht vergessen hat: »Der Sohn von Willy Brandt zu sein, ist nicht Kern meiner Biografie«. Wer etwas über ihn in Erfahrung bringen möchte, stößt immer wieder auf den folgenden Satz, der sich auch auf dem Klappentext von »Andenken« findet: Lars Brandt macht Filme, Texte, Bilder.
»Die Hauptgefahr lag für mich darin, mich gegen die öffentliche Erinnerung an meinen Vater zu wehren«, sagt Lars Brandt. Er sitzt im Arbeitszimmer seiner Bonner Wohnung, und der Besucher muss natürlich an jene Passage aus dem Buch denken, in der es um die verschiedenen Welten geht, in denen sich Vater und Sohn damals eingerichtet hatten: »Ein anderes Leben habe ich mir gezimmert, mit anderen Möbeln drin. Mein Regal ist mit anderen Büchern gefüllt.« Dort finden sich großformatige Kunstbildbände; auch Belletristik ist reichlich vorhanden. Der Raum, in dem all das steht, ist auf klar arrangierte Weise möbliert. Vielleicht lässt sich bereits darin, wie die Dinge hier an ihrem Platz stehen, jene große Aufmerksamkeit für Oberflächen erkennen, die Lars Brandt später im Gespräch in Bezug auf das Buch so umreißt: »Die Dingwelt, die Erscheinungsformen, die Art, wie ein Mensch auftritt, all das ist wichtig. Das ist meine Art, die Wirklichkeit wahrzunehmen und mich ihr anzunähern.« Nicht um Richtigstellung geht es diesem Sohn in »Andenken «, auch nicht um eine Verteidigung des Vaters. Nicht darum, eventuell fällige Korrekturen am Bild des – oder sollte man besser sagen: am Mythos – Willy Brandt anzubringen. Vielmehr ist das Buch der Versuch, sich in dem mit allerlei Brandt-Denkwürdigkeiten, manchen Brandt-Hässlichkeiten und mittlerweile auch Brandt- Skurrilitäten zugestellten öffentlichen Haus der Mnemosyne einen eigenen Raum zu erobern. Einen Rückzugsort der Erinnerung, in dem er dem Vater begegnen kann; zu dem niemand sonst Zutritt hat. Das Gegenteil eines Kinderzimmers im Hause Brandt also. »Wenn jemand mir erzählt: Ihr Vater war ein wichtiger oder furchtbarer Politiker – dann redet er über etwas anderes, als wenn ich mir über mein Verhältnis zu ihm Gedanken mache. Er war mein Vater. Man hat nur einen Vater.«
Wie schwierig es ist, zwischen der eigenen Erinnerung und dem zu unterscheiden, was andere über Willy Brandt zu sagen haben, kann wohl nur schwer nachvollziehen, wer seinem Vater Jahre nach dessen Tod nicht schon mal als Münzprägung, auf einem Straßenschild, als Radioarchivstimme oder im Fernsehen begegnet ist. »Auch wenn ich konstatiere, an dem Pakt mit der Öffentlichkeit, der sein Leben charakterisiert, nicht beteiligt zu sein, kann ich schwerlich an ihn denken, ohne darauf hingewiesen zu werden, dass es in allem mehr gab als uns beide«, heißt es dazu in »Andenken«. Und weiter: »Das Rein-Private existiert nicht, sobald er ins Spiel kommt, lebendig oder tot.« Lars Brandt versucht es also gar nicht erst mit der müßigen Frage aufzunehmen, wie Willy Brandt wirklich gewesen ist. Für ihn zählt nur, wie er für ihn war. Wenn in »Andenken« eine Wahrheit gesucht wird, dann die einer sehr besonderen Beziehung: »Ich habe akzeptiert, dass die Intimität unserer Beziehung keinen körperlichen Ausdruck fand. Man sollte auch immer darüber nachdenken, wie man auf den Anderen zugeht. Wenn ich eine falsche Frage stelle, bekomme ich eine Antwort, die mich nicht zufrieden stellt.« Ein »enges, vertrauensvolles und sehr entspanntes Verhältnis« habe er zum Vater gehabt. Zwischendurch geht Lars Brandt kurz in die Küche, um schnell einen Tee aufzusetzen, kehrt nach kurzer Zeit ohne diesen zurück, schaut in das Arbeitszimmer und sagt nur einen einzigen Satz: »Mann musste ihn zu nehmen wissen«, um dann gleich wieder zu verschwinden. Lars Brandt ist in diesem Moment leicht anzumerken, dass diese »Sache« noch nicht zu Ende gedacht ist. Später wird der Sohn dann noch hinzufügen, dass Willy Brandt ein guter Vater gewesen sei. Das klingt in diesem Moment sehr überzeugend. Obwohl, vielleicht aber auch weil sich in »Andenken« einige jener Anekdoten finden, die das, was die Geschichte mit den nie aufgesuchten Kinderzimmern sagen soll, noch verstärken: »Lars mit guten Wünschen – Willy Brandt« schreibt der Vater dem Sohn in eines seiner gerade eben erschienenen Bücher. Den Brecht-Band hingegen, den der Sohn dem Vater – mit Widmung versehen – geschenkt hatte, erhält er wenig später zu Weihnachten als Präsent zurück.
Diese Achtlosigkeit mag nicht unbedingt ein Zeichen der Beziehungslosigkeit sein, sondern auch ein Hinweis darauf, »daß andere, wirklich persönliche Gaben sowie Zeugnisse dessen, was wir miteinander erlebt hatten, spätestens nach seinem Tod in den fahlen Kammern eines Archivs landen würden.« Das zumindest vermutet Lars Brandt in einer seiner Miniaturen, die durch gedankliche Schärfe hindurch wie Brenngläser auf solche vermeintlich banalen, aber immer wieder auch auf hinlänglich bekannte und politisch bedeutsame Details gerichtet sind. Doch selbst wenn dieser unfreiwillige Tausch tatsächlich so emotional einseitig gewesen wäre wie er scheint – die Substanz der Beziehung, daran lässt Lars Brandt keinen Zweifel, beschädigten solche Versäumnisse nicht. Denn Vertrauen und die Intimität zwischen beiden, so heißt es in »Andenken«, gab es eben deshalb, weil der Jugendliche sehr früh versteht, dass er von dem Vater
Verbindlichkeit oder Innigkeit nicht erwarten darf. Doch sollte diese Zurücknahme nicht mit falscher Rücksicht verwechselt werden. So wie ein Gummi nur bei regelmäßiger Belastung nicht porös und rissig wird, bleibt die Beziehung zwischen Vater und Sohn auch deshalb unzerstörbar, weil ihre Elastizität regelmäßig auf die Probe gestellt wird. Bis an die Grenze zur Überdehnung. Als Willy Brandt Mitte der 80er in einem Interview behauptet, seine Söhne seien mit ihm einverstandener, als es ihm recht sei, bricht Lars Brandt den Kontakt mit einer Konsequenz ab, die auf den Außenstehenden geradezu brutal wirkt. »Respekt war wichtig. Es gab eine Grenze, die nicht zu berühren der Takt gebot. Es ging mir dann zu weit, dass er in der Öffentlichkeit damit angab, dass seine Söhne zu viel Verständnis für ihn hätten. Ich gab mir ganz im Gegenteil große Mühe, seine Positionen zu durchdenken und mich darauf einzustellen. Das war eine Unverschämtheit, die ich mir nicht bieten lassen wollte«, erklärt er heute seine Radikalität. Doch sei er sich selbst in den Jahren, in denen dieses Stillschweigen andauerte, immer sicher gewesen, dass »der Kern« eben unangetastet war. Enden sollte diese Zeit erst 1992, kurz vor dem Tod des Vaters.
Aus diesem Jahr stammt auch eine Zeichnung Lars Brandts, die einen in Hüfthöhe abgeschnittenen Körper zeigt, darauf einen Kopf mit elefantengroßen Ohren. Der Schädel wirkt knochig, wie der eines Toten; der Mund lächelt verzerrt, das lid- und pupillenlose Auge ist direkt auf den Betrachter gerichtet. Es ist das letzte von fünf Bildern, die Lars Brandt in »Andenken« integriert hat und auf einen Tag im Juni datiert. Die vier davor sind allesamt Fremdbilder seines Vaters – als Automatenpassfoto, auf einer russischen Lackdose, als Gemälde und Polaroid. Sie zeigen Willy Brandt mehr oder weniger so, wie wir ihn in Erinnerung haben. Neben dem letzten Porträt steht: »Diese Zeichnung, die ich … machte, war meine Art, darüber nachzudenken, was geschah. Die Besuche bei meinem kranken Vater.« Vielleicht will diese Reihung zu verstehen geben, dass sich die persönliche Wahrheit eben nur annäherungsweise abbilden lässt, nie aber in Übereinstimmung mit dem, was andere für wirklich hinzunehmen bereit sind.
Für Lars Brandt jedenfalls bleibt in seinem Verhältnis zum Vater, den er das ganze Buch hindurch immer nur »V.« nennt, »eine Differenz, die nicht zu überbrücken ist. Dieses Verhältnis hat sich immer in einem Bereich abgespielt, der sich nicht abschotten ließ gegen Einflüsse von außen. Ich werde noch heute auf ihn angesprochen. Die Frage bleibt für mich: Was sage ich dann?« Und es ist eine offene Geschichte, »weil sie ein Teil meiner selbst ist. »Ich habe damit nicht abgeschlossen.« Ob er stolz auf seinen Vater ist, will der Besucher am Ende noch von ihm wissen. »Ich empfand den normalen kindlichen Stolz.« Ende der Aufzeichnung. Doch dann möchte Lars Brandt diese Aussage noch präzisieren. »Aber ich hatte sehr früh eine sehr unkindliche Sicht auf ihn.« //
Lars Brandt »Andenken«. Carl Hanser Verlag, 156 Seiten, 16,90 Euro