TEXT: HANNES KRAUSS
Zu betonen, dass Joachim Geil ein Landeskind sei, dessen Bücher »in jenem Verlag« erschienen, »in dem auch Nobelpreisträger Günter Grass veröffentlicht«, war dem rheinland-pfälzischen Kulturstaatssekretär bei seinem Besuch auf der Frankfurter Buchmesse wichtig. Der Autor, 1970 in Kandel geboren und in Bad Bergzabern aufgewachsen, lebt allerdings seit Anfang der 90er Jahre in Köln, wo er Theater- und Filmwissenschaften sowie slawische Philologie studiert hat und jetzt als freier Ausstellungskurator und Lektor für Kunstbuchverlage arbeitet. Da zudem die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen die Arbeit am gerade erschienenen neuen Roman gefördert hat, müssen sich die beiden Länder den Glanz des Jungautors wohl teilen.
Vor zwei Jahren ließ Geil aufhorchen mit »Heimaturlaub«, der Geschichte eines jungen Leutnants, der 1944 auf Urlaub in die Pfalz kommt und sich dort mit Erinnerungen an seine Erlebnisse in Russland quält. Bemerkenswert waren nicht nur das Thema des Romans (Innenansichten vom Russlandfeldzug aus der Perspektive eines Täters) und sein Sprachduktus, sondern auch die Tatsache, dass dieser Autor noch nicht einmal 40 war. Die Geschichte seines Protagonisten, der – aus Liebe – die russische Geliebte getötet hat und danach gleichermaßen von Schuldgefühlen und Gewaltfantasien heimgesucht wird, hatte zwar einen biografischen Hintergrund (in der Familie aufbewahrte Feldpostbriefe), geriet aber, weit über den familiären Anlass hinaus, zu einem eigenwilligen Antikriegsroman – dessen ungewöhnlicher Ton von der Kritik gelobt wurde.
DER ERSTLING KOMMT JETZT
Nun hat Joachim Geil ein zweites Buch vorgelegt, und wieder geht es um Erinnerungen an eine Epoche, die vor seiner Lebenszeit liegt. »Tischlers Auftritt«, ein Roman über das Leben und die Leiden eines Achtundsechzigers, sollte ursprünglich der Erstling werden; vorher hatte dieser Autor nur ein paar Kurzgeschichten und eine Monografie über den Maler und Bühnenbildner Egon Wilden veröffentlicht. Dann kam ihm der Fund der Briefe und »Heimaturlaub« dazwischen, und so hat er sich schließlich acht Jahre lang mit den erfundenen Erinnerungen des Ernst Ewald Tischler auseinander gesetzt. Der, Jahrgang 1947, Sohn eines Finanzbeamten in der pfälzischen Provinz, gerät als Schüler kurz vor dem Abitur in eine Adorno-Vorlesung.
Der Kontrast zwischen dem da Gehörten (wenn auch nur zum Teil Verstandenen) und dem Deutsch-Unterricht bei ehemaligen Nazilehrern beeindruckt ihn so, dass er gegen den Widerstand des Vaters beschließt, Sozialwissenschaften in Frankfurt zu studieren. In der Folge begleiten wir ihn durch die ereignisreichen 60er und 70er Jahre an der Frankfurter Universität – mit legendären Adorno-Vorlesungen, Westend-Demonstrationen sowie dem Aufblühen des Terrorismus und seinem Niedergang. Ikonen der Zeitgeschichte kommen vor – als Namen (Hans-Jürgen Krahl, Daniel Cohn-Bendit, Rudi Dutschke, »der Andy«) oder als stilisierte Figuren (die zur Militanz neigende schöne Pfarrerstochter, der ehemalige Fürsorgezögling und Stricher).
ZWEI ZEITEBENEN
Angereichert wird das Spektrum durch Typen wie den unangepassten, R 4-fahrenden Onkel Willy, im Zweiten Weltkrieg Deserteur, jetzt eher erfolglos aber sympathisch; den Bruder Egon, Bundeswehr-Zeitsoldat, der nach dem Bekenntnis zur lange unterdrückten Homosexualität die Achtung des Vaters verliert und die des Protagonisten gewinnt; oder der gleichermaßen gebildete wie dominante Macho Gerd, der als Opfer manifester Frauenemanzipation auf der Strecke bleibt. Dazwischen »Ernesto« Tischler, zeitlebens »passiver Aktivist« und »zaudernder Zeuge der Welt«, dessen Erinnerungen sich in der Rückschau verwandeln »in die glaubhafte Geschichte eines engagierten Studenten«, und der sich dazu träumt, was er nicht selbst erlebt hat.
Formal präsentiert sich der Roman reichlich ambitioniert. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen: In der Rahmenhandlung begleiten wir den alternden Protagonisten auf seinem Weg ins Fernsehstudio, wo er bei einer populären Koch-Show mitwirken soll. Er ist nämlich, nach Zwischenstationen beim Rundfunk, erfolgreicher Verfasser ungewöhnlicher Kochbücher geworden (wie »Nudelgerichte bei Rossini« oder »Kafkas Kekse«), inzwischen aber an Speiseröhrenkrebs erkrankt. Bei der Taxifahrt ins Studio festigt sich sein Entschluss, im vermutlich letzten Auftritt endlich einmal praktische Medienkritik zu üben. (Ein breit ausgeführtes Nebenthema des Romans widmet sich den verhängnisvollen Folgen der Fernsehunterhaltung.) Diese Gegenwartshandlung wird aus Tischlers Ich-Perspektive geschildert; eingeschoben sind seine Erinnerungen an Jugend und Studienzeit, die – in einer Art Selbstgespräch – in der zweiten Person präsentiert werden und den größten Teil des Romans einnehmen. Ein weiterer Ich-Erzähler (Marcel, Praktikant im Fernsehstudio und Student der Medienkulturwissenschaften) wird zum Mittler zwischen Haupt- und Nebenthema und wohl auch zwischen den Generationen.
VIELZAHL DETAILLIERTER MOMENTAUFNAHMEN
Diese Konstruktion macht die Lektüre mitunter ein bisschen mühsam, wie auch ein Hang zur thematischen Überfrachtung; beides stiftet gelegentlich Verwirrung. Wohlwollend könnte man unterstellen, so werde das Chaos und die Unübersichtlichkeit jener Jahre simuliert, die sich erst in der Rückschau zur – je nach Standpunkt – verklärten Zeit des Aufbruchs oder zum dämonisierten Grund gegenwärtiger Übel geordnet haben.
Die Stärken des Romans liegen in einer Vielzahl detaillierter Momentaufnahmen aus dem Alltagsleben einer Generation, deren konkrete Erfahrungen sich heute hinter dem Etikett ›Achtundsechzig‹ verstecken. Die Zornanfälle des autoritären Vaters, die Hahnenkämpfe in der studentischen Theatergruppe bei den Proben zum Marat-Stück von Peter Weiss, die Balz-Rituale vor, während und nach den Adorno-Vorlesungen, Selbst- und Fremdversuche in Sachen Liebe und Sexualität, die Schilderung möblierter Wohnverhältnisse und entspannter Kiff-Erfahrungen, die Militanz als Spiel und als Ernstfall – all das gruppiert sich zum authentischen Bilderbogen einer Zeit, in der individuelle und gesellschaftliche, körperliche und politische Adoleszenz sich ununterscheidbar vermengt haben.
Was interessiert einen Nachgeborenen an jener Zeit? Und wie gelingt es ihm, die Perspektive seiner Protagonisten derart glaubwürdig zu rekonstruieren? Joachim Geil dementiert, traumatische eigene Kindheitserfahrungen auf eine andere Epoche projiziert zu haben und betont: »Ich bin das ausgesprochene Opfer einer glücklichen Kindheit. Ich bin der Sohn eines engagierten Umweltschützers, dem ich mich, obwohl er mir manchmal zu sektiererisch war, immer mehr verpflichtet sehe.« Einer Einordnung des Buches ins Genre ›Historischer Roman‹ widerspricht er: »So sehr nicht miterlebt hab‘ ich das gar nicht. Die phänomenologischen Folgen der 68er waren in meiner Kindheit weit verbreitet – als Fahndungsplakate (warum haben die so böse Gesichter?) und als magische Momente (langhaarige Schlaghosenträger, Hippies, singend und Gitarre spielend auf Pfälzer Burgruinen der Wandersonntage, die ich allwöchentlich miterlebt habe), aber auch als Imponiergehabe junger Machos.«
So erschöpft sich denn das Thema für Geil nicht in der Rekonstruktion. Sein Ernst Ewald Tischler mag eine gebrochene Existenz sein; unsympathisch ist er nicht. In der Gestaltung dieser Figur schwingt die Enttäuschung eines Nachgeborenen mit über das Scheitern eines ihm sympathischen gesellschaftlichen Projektes. Und vielleicht sogar ein bisschen Hoffnung, das eine oder andere davon doch noch in die Gegenwart hinüber retten zu können.
Joachim Geil: »Tischlers Auftritt«; Steidl Verlag, 475 Seiten, 22 Euro.
Lesung am 22. Januar um 20 Uhr in der Kölner St. Agnes-Kirche.