TEXT: ANDREAS WILINK
»So etwas tut man doch nicht«, Ibsens berühmtes Schlusswort, ist gestrichen. Also auch der Pistolenknall, mit dem sich Hedda Gabler aus der Welt schießt. Muss sie auch nicht. Tote bzw. Untote brauchen ihr Leben nicht mehr zu beenden. »So etwas tut man doch nicht«, ließe sich freilich Regisseur Roger Vontobel entgegenhalten, der vor dem Stück und der Titel-Frau kapituliert. Er streckt die Waffen. Ersetzt sie durch die Instrumente plattester Symbolik und formiert die Figuren des Stücks am Ende zum Gruppenbild, angereichert um elf Kinderlein und Papa Gabler, die alle den verdächtig gleich rot geschminkten Mund zur Schau tragen, was immer das zu bedeuten hat. Damit nicht genug. Dieser General Gabler, den der Besetzungszettel Ibsens nicht kennt, spukt den ganzen Abend lang einher: ein – bei Gisbert Görke – kleinwüchsiger Mensch, der mit grellem Lachen aus den Kulissen klettert und als Operetten-Popanz sein Unwesen treibt: Wiederkehrer des Verdrängten, Todesbote und Heimholer ins süße Jenseits. Auch damit noch nicht genug. Am Schluss tragen Hedda, Tesman und die anderen Tiermasken und Insektenköpfe. Die bürgerliche Gesellschaft als Ameisenstaat?
So fängt es auch an im Bochumer Schauspielhaus: mit Blüten und Bienen, Flora und Fauna. Die Natur sprießt, begattet sich, spritzt auch mal Gift, ist ungezähmt und triebhaft. Ins projizierte wilde Video-Idyll wächst der Mensch, das traurige Tier, als Mann und Frau, Vater und Tochter hinein. Los geht’s. Dafür muss erst die Schutzfolie runter, mit der die ovale Bühne (Claudia Rohner) abgedichtet und bespannt ist. Auch der Innenraum wurde mit Plastik verpackt und beklebt. Ein Provisorium. Eine Behausung, kein Heim.
Auftritt Hedda: Jana Schulz, wie ein Rockstar nach unausgeschlafener Nacht im schwarzen Anzug und mit dunkler Sonnenbrille, fläzt sich auf der Matte, um dann den restlichen Kunststoff von der Sperrholz-Kabine herunterzureißen. Noch später wird sie als strippende Feuer- und Windsbraut Eilert Lövborgs Manuskript verbrennen und sich zu dröhnendem Heavy Metal abarbeiten am Demolieren der Häuslichkeit. Luft zum Atmen kriegt diese »Hedda Gabler« trotzdem nicht, wenn der Raum nun auch frei liegt. Vielleicht ist es nicht Jana Schulz’ Rolle. Jedenfalls nicht in Vontobels Inszenierung, wo diese Schauspielerin doch im Wüten gegen sich selbst und beim Bohren in sich hinein groß sein kann. Hier hat sie keine Chance, obgleich sie zwischen-durch wie eine offene Rasierklinge scheint; lauernd, lässig, lazy. Die der Hedda innewohnende, auch gegen sich selbst gerichtete Zerstörungskraft wird delegiert an das clownesk grinsende Daddy-Gespenst: Geisterbahn-Psychologie.
Im übergroßen Schattenriss hantiert Hedda mit den Pistolen. Die Waffen sind phallische Objekte, Hedda hat sich nicht gelöst vom Vater-Phantom. Ist Tochter und kann nicht Frau werden. Oder nur als Vollstreckungsorgan des Toten. So wird sie zur unfertigen, sich selbst überdrüssigen und gar verhassten Frau. Schon gar nicht kann sie Mutter werden. Stammelnd bringen sie und Tesman ihre Elternschaft nicht über die Lippen und öffnen eine Kinder-Kiste, in der das General Gabler-Monstrum hockt. Mit Hedda – Tochter, Ehefrau, Liebhaberin, Freundin, ungewordene Mutter und Selbstmörderin – wird man nicht leicht fertig. Bei Vontobel ist sie vom Vater-Spuk kalt gestellt und zur Fühllosigkeit verdammt, was in der Theorie richtig sein mag, aber bühnenpraktisch nicht aufgeht. Nimmt man die Bedeutungs-Attrappen weg, bleibt ein konventionelles, mittelmäßiges, aufgemotztes Spiel: mit einem strizzihaften Richter Brack (Matthias Redlhammer); einer äußerlich ökobewegten Thea (Minna Wündrich); einer pastellfarbig kecken, gar nicht tantenhaften Jule Tesman (Katharina Linder); einem treu-doofen und harmlos-naiven Jörgen Tesman (Felix Rech) und einem ebenfalls schwarz gekleideten Untergangs-Berserker Lövborg (Florian Lange). Während eine Etage tiefer die Psycho-Wracks strampeln, sitzt Lövborg, nun ebenfalls als Untoter, aber ohne Tier-Larve der einzig wahre Künstler-Mensch, auf dem oberen Bühnenrahmen: blutig entmannt vom Schuss in den Unterleib. Intellektuelle Entmannung ist auch seinem Regisseur zu attestieren.