»Persönliche Initiative und freier Unternehmergeist machen noch immer den American Way of Life aus und beweisen, dass jeder Erfolg haben kann, der die Möglichkeiten in unserem Lande nutzt.« Für das Zitieren dieser US-amerikanischen Alltagspräambel müsste das Phrasenschwein natürlich sofort mit fünf Dollar angefüttert werden. Ins Redemanuskript gerutscht war diese Abgegriffenheit dem Bürgermeister von Fort Worth (Texas), als er am 29. September 1983 einem Mann die Ehrenbürgerschaft zu verleihen hatte, der weder eine florierende Rinderfarm hochgezogen hatte, noch auf eine sprudelnde Ölquelle gestoßen war. Ausgerechnet Ornette Coleman, der als unmusikalischster Sohn der Stadt galt, wurde als Symbol des amerikanischen Tagtraums geehrt. In einem Punkt aber lag er damit gar nicht so falsch. Denn dem Saxofon spielenden Unternehmer Ornette Coleman wird bis heute nachgesagt, dass er Gagen fordere, die vielleicht im Pop-, niemals aber im Jazz-Geschäft üblich sind. Zudem soll er mit 14 Jahren auch nicht brav Logarithmen gebüffelt haben, sondern als Schuhputzer und Hotelboy unterwegs gewesen sein, um sich das nötige Kleingeld für sein erstes Instrument zu verdienen. Ein richtiger Self-Made-Man eben. Damit ist die Schnittmenge zwischen offizieller Würdigung und Lebensleistung aber auch schon erschöpft.
Hatte Ornette Coleman doch für die Ohren des normalen Musikkonsumenten im Allgemeinen und denen des traditionsbewussten Jazz-Fans im Besonderen von Beginn an so ziemlich alles falsch gemacht, was man sich vorstellen konnte. Die einen wie die anderen schreckte er Ende der 1950er Jahre mit einem Freiheitswillen im musikantischen Vollzug auf, bei dem zwangsläufig alle Konventionen über den Haufen geworfen wurden. Statt »funktionalharmonisch« korrekte Baupläne zu befolgen, streute Coleman lieber tonnenweise Schwarzpulver in die handelsüblichen Blues- und Standard-Förmchen – um sie erst im Quartett-Verbund und dann, am 21. Dezember 1960, mit gleich sieben gleichgesinnten Sprengmeistern hochgehen zu lassen. Auf jenem Album, dessen Titel schnell zum schwerverkäuflichen Schreckgespenst und gleichzeitig zum Programm für eine ganze Epoche wurde: »Free Jazz«.
Dank seines unbedingten Willens, das Geflecht aus Melodie, Harmonie und Rhythmik radikal umzuspannen, stieg Coleman neben John Coltrane und Miles Davis prompt zu einer Art »Godfather of Jazz« auf. Auch die jüngere Generation zählt ihn weiterhin zu ihren richtungsweisenden Herren und Meistern. Ob Pat Metheny, Branford Marsalis oder so unterschiedliche Trios wie The Bad Plus – bekannt für ihren High-Energy-Rock-Jazz – oder die für hypnotischen Space-Groove stehenden Medeski, Martin & Wood. Bei einem aber hallen Colemans frühe Donnerschläge noch besonders in den Ohren: bei Pianist Joachim Kühn, der bereits als Teeny Anfang der 1960er Jahre den Texaner zu seinem Idol machte, nachdem ihm der Bruder aus New York ein Exemplar von »Free Jazz« mitgebracht hatte: »Ornette Coleman erfindet sich und den Jazz immer wieder neu. Und von ihm habe ich gelernt, dass man weiter an einem Kunst-Jazz festhält, bei dem man auch ein wenig mitdenken muss.« Bei soviel unverblümter Wertschätzung ist es daher kaum verwunderlich, dass Kühn seinen musikalischen Ziehvater Ornette Coleman nun unbedingt auch bei seiner »Residence«-Konzertreihe in Essen exklusiv dabei haben wollte. Nachdem man sich 1996 erstmals in der Arena in Verona vor 12.000 Zuhörern beschnuppert und kurz darauf bei einem Bach-Projekt in Leipzig endgültig zueinander gefunden hatte. Dass die Idee für diese Hommage an Johann Sebastian Bach nicht vom gebürtigen Leipziger Kühn, sondern eben von Coleman stammt, war jedoch nicht das erste Anzeichen von Altersweisheit und Milde beim heute 76-Jährigen. Bachs Dialektik, seine Verzahnung des strukturellen Denkens mit der Improvisation, bildete quasi den urhistorischen Sockel für das, was Ornette Coleman schon immer, bloß unter anderen Vorzeichen gemacht hatte.
Rückblickend hat sich aber sowieso der Rauch der damals erhitzten Gemüter gelegt. Colemans skandalträchtiges Konzept, das er am 17. November 1959 im New Yorker Jazzclub »Five Spot« erstmals und vor prominenten Ohrenzeugen wie Leonard Bernstein vorstellte, hat längst unter dem Stichwort »Harmolodic« seine Lehrbuchreife erlangt. Und auch die ersten Schallplatten – »Tomorrow is the Question!«, »The Shape of Jazz to Come« und »Change of the Century« – spiegeln zwar einen fingerverbrühend heißen Umgang mit Klangflächen und Strukturen wider. Was aber so selbstbewusst visionär über die Covertitel behauptet wurde, entpuppt sich jetzt, vier Jahrzehnte später, doch mehr als werbeträchtige Provokation.
Immerhin fand Colemans spontanes Gestalten nie in einem autistisch verschlossenen System statt. Eher nutzte er den gesamten Nährboden vom Blues über Cool Jazz bis Bebop, um ihn nach eigenen, die Reaktionsfähigkeit seiner Mitmusiker herausfordernden Regeln umzugraben. Auch wenn sich so innerhalb eines Stückes Schwerpunkte scheinbar auflösten, es keine Dominanz von Solist und Rhythmusgruppe mehr gab – tonale Zentren zeichneten sich genauso ab wie gefühlserregende Melodien à la »Lonely Woman«, in die sich selbst ein Ex-Kaputtspieler wie Peter Brötzmann oder das Kronos Quartett mittlerweile verhört haben. Obwohl Coleman mit seiner Vorliebe für Plastiksaxofone und schreiend farbige Anzüge sogar vom ultrakonservativen Jazz-Gralshüter Wynton Marsalis für Konzerte im Lincoln Center eingeladen wird, ist er dennoch die Unberechenbarkeit in Person geblieben. Egal, ob er nun mit seinem Prime Time-Kollektiv die Rock-Jazz-Mode mitmacht, oder mit seinem 2003 gegründeten Quartett mal wieder und wie zu den guten alten »Free Jazz«-Zeiten mit Greg Cohen und Tony Falanga gleich zwei Bassisten engagiert, die ihm den Rücken freihalten. Für eine elektrisierende Reise durch so manch bekannte Schlucht und hinauf zu schwer bezwingbaren Gipfeln. Wobei auch hier Colemans alter Leitspruch gilt: »Die Erschaffung von Musik ist genauso etwas Natürliches wie Atmen.« So einfach schreibt man Jazz-Geschichte.
Ornette Coleman Quartet feat. Joachim Kühn, am 14.2. in der Essener Philharmonie, Tel.: 0201/8122 –200; www.philharmonie-essen.de