TEXT: ULRICH DEUTER
Der kleine Baker ist ein fixer Junge, der am liebsten als erster fertig ist. Denn Erster zu sein garantiert ein Lob von der Lehrerin. Die heißt Betül Durmaz und weiß, Baker lechzt förmlich nach Anerkennung. Leider geht Bakers Schnelligkeit meist auf Kosten der Gründlichkeit, aber dumm ist Baker nicht. Das Problem von Baker ist: Er ist aggressiv. Er stört den Unterricht. Er attackiert seine Mitschüler. Wenn er in Fahrt ist, wirft er deren Hefte auf den Boden oder schmeißt gleich den ganzen Tisch um.
Dominik lehnt es grundsätzlich ab, Hausaufgaben zu machen. Seine Spezialität ist, im Unterricht Geräusche zu erzeugen. In den Pausen verlegt er sich aufs Schlagen und Bespucken seiner Mitschüler. Dauernd sind seine Hefte weg. Auch Zabrin fällt es schwer, sich an die elementaren Schulregeln zu halten. Sie kommt in den Klassenraum, wann sie will, auf Ermahnungen reagiert sie nicht. Ihr Mitschüler Hassan besucht überhaupt nur dann und wann die Schule. Wenn er mal da ist, stört er. Als Hassan eines Tages wieder mal vom Unterricht ausgeschlossen wird und im sogenannten Trainingsraum sitzt, wo Schüler gemeinsam mit einem anderen Lehrer ihr Verhalten besprechen und Problemlösungen ausdenken sollen, wird Hassans Lehrerin Durmaz auf dem Schulhof von Hassans großem Bruder Ali mit Prügel bedroht.
Dieser Schulhof gibt sich trostlos wie die meisten Schulhöfe im Land. Aber die Schule selbst ist ein fast gemütlich wirkendes Haus in gediegener Umgebung. Nicht weit entfernt zeigt sich die Lage anders: verwahrloste Straßenzüge mit billigem Wohnraum, wo deklassierte Deutsche und integrationsferne Migranten sich in die Hoffnungslosigkeit teilen. So wie auch in Rotthausen und Ückendorf: Das sind die benachbarten Stadtteile und das ist die soziale Klientel, aus denen die Malteserschule in Gelsenkirchen-Neustadt ihre Schüler bezieht. Sie ist eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen. Die Kinder, die nach einem umfangreichen Test hier landen, besitzen keine körperliche oder geistige Behinderung, höchstens einen geringen IQ, vielleicht nicht mal das. Doch liegt ihnen alles, was mit Aneignen, Behalten, Konzentrieren, Vorstellen, mit Rechnen und Schreiben zu tun hat, fern. Sehr fern. Denn sie leiden an einer Erbkrankheit: ihrer Familie.
Sie stammen aus Verhältnissen, in denen die Selbstverständlichkeit des Lernens; der Gedanke, man könne oder müsse etwas aus sich machen; die Gewissheit, dass man selbst es ist, der das eigene Leben gestaltet – in denen all dies fehlt. Sei es, dass bereits Mutter und Vater – falls es ihn gibt – keine Verbindung zwischen Leistung und Lohn kennen gelernt haben, weil sie schon immer Sozialhilfe beziehen, weil ihr Leben keine Struktur kennt, keine Kontinuität. Hier sind die Kinder die einzigen, die morgens aufstehen. Oder sei es, dass die Wertvorstellungen eines rückständigen Islams und die archaische Lebensweise der verlassenen Heimat Bildung als etwas Unheimliches, den Staat mit seiner Schulpflicht als Bedrohung erscheinen lassen. Denn 70 Prozent der 250 Malteserschüler stammen aus Migrantenkreisen.
Was auch der Grund ist, warum Baker, Zabrin und Ali es bis in die Bild gebracht haben, Dominik aber nicht. Denn ihre Lehrerin Betül Durmaz hat ein Buch geschrieben: »Döner, Machos und Migranten«, heißt der etwas reißerische Titel, und darin beschreibt die Sonderschulpädagogin ihr »zartbitteres Lehrerleben« an der Malteserschule in zahlreichen plastischen Details. Details, die alle Vorurteile vom notorisch integrationsunwilligen Migrantenmilieu bestätigen können. Baker, Zabrin und Ali sind Libanesen. Eine Gelegenheit, die Bild sich nicht entgehen ließ und die saftigsten Geschichten aus dem Buch zitierte. Dominik hätte da nur gestört, denn Dominiks Vater ist ein drogenabhängiger Deutscher.
Jetzt sitzt Betül Durmaz in Klassenraum 4 an einem der munter verteilten Schülertische und sagt, dass sie es nicht so schlimm findet, von der Bild-Zeitung missbraucht worden zu sein. Man solle eben nicht Bild lesen, sondern ihr Buch. In dem schreibe sie unmissverständlich, dass die Probleme bei einer deutschen Bianca oder einem türkischer Murad dieselben sind. – Nämlich? – Das Elternhaus. Ein Euphemismus für das, in dem die meisten ihrer Schüler leben müssen und von dem sie fürs Leben geprägt werden. Sechs, acht, zehn Kinder in beengten Wohnverhältnissen, um deren Belange sich niemand kümmert. Ein von Fernsehbildern beflackertes Chaos, in dem die Mutter mit Geschrei und wahllos verteilten Ohrfeigen versucht, sich durchzusetzen. So hat Durmaz es bei Hausbesuchen erlebt. »Das ist, was mich oft so traurig macht. Eigentlich müssten wir die Eltern mit erziehen.« Eltern, die ihre Kinder nicht ausreichend medizinisch und mit Nahrung versorgen, denen egal ist, ob sie morgens zur Schule gehen. Die bei Nachfragen der Lehrer dreiste Lügen über den Aufenthalt ihrer Kinder oder den Verbleib von Lernmitteln auftischen. Werden die Eltern eines daueraggressiven Schülers vorgeladen, gibt es zwei Reaktionsmuster: Hassan, Ali, Dominik macht zuhause nie Probleme, das muss an der Schule liegen. An der Lehrerin. An der unreligiösen deutschen Gesellschaft. Und zur Schüleraggression gesellt sich die der Eltern, die auch schon mal brüllend im Klassenzimmer stehen. Oder aber Zabrin und Ibrahim bekommen die Autorität des Familienpatriarchen dermaßen zu spüren, dass das Verhältnis des »verpetzten« und verprügelten Kindes zur Lehrerin nachhaltig gestört ist.
Ein Ausländerproblem? Unstrittig besuchen prozentual weitaus mehr Migrantenkinder eine Förderschule. Dennoch widerspricht Durmaz: »Ein soziales Problem! Die Tochter eines libanesischen Arztes geht nicht auf eine Förderschule. Mein Sohn ist auch nicht hier.« Betül Durmaz wurde 1968 in Istanbul geboren, als kleines Mädchen kam sie mit ihren Eltern nach Deutschland. Der erste Teil ihres Buches beschreibt anekdotenreich, wie Vater und Mutter einerseits in konservativen sozialen Verhältnissen aufwuchsen und sogar von den Familien miteinander verheiratet wurden. Wie andererseits die Auswanderung nach Deutschland Ausdruck des Wunsches nach Freiheit war, den beide Eltern in sich spürten. Und wie die ihre beiden Kinder zwar religiös erzogen, aber nie einengten, immer bestärkten zu lernen. Die Durmaz’ sind eine Erfolggeschichte der Migration. Betüls Bruder Ercan wurde Schauspieler, sie selbst nach dem Abitur zunächst Flugbegleiterin bei der Lufthansa. Seit 2000 unterrichtet sie und erlebt fast täglich, dass ihre gelungene Biografie verunsicherten Ausländerkindern Mut macht. Und dass ihre türkische Herkunft samt Muslim-Sein ihr bei einem alles »Ungläubige« verachtenden Patriarchen einen Autoritätsbonus verschafft, wenn es etwa um die Teilnahme der Tochter am Schwimmunterricht geht.
Nur etwa ein Prozent der Lehrer an deutschen Schulen ist nichtdeutscher Herkunft. Warum so wenige? Durmaz glaubt, die Ursache liege in dem geringen Sozialprestige eines Lehrers in der Türkei. »Auch mein Vater hätte es lieber gesehen, ich wäre Ärztin oder Richterin geworden.«
Ein bisschen Richterliches hat Betül Dürmaz mitbekommen. So ist sie entschieden dafür, die Sanktionen gegenüber schulfeindlichen Eltern zu erhöhen. »Speziell in NRW greifen die Gesetze nicht«, klagt sie, die in jeder Klasse ein bis zwei solcher Totalverweigerer kennt. Gegen deren Eltern, ob deutsch oder ausländisch, sei kein Kraut gewachsen. Manche würden am liebsten ihre Töchter ganz zu Hause lassen – aus Angst vor der die Familienehre gefährdenden deutschen Umwelt. »Da sage ich dann: Wem die Schulpflicht nicht passt, der soll halt nach Afghanistan gehen, auch ein schönes Land. Da werden die Mädchen nicht beschult.« Durmaz träumt von Projekten, in denen erst mal die Eltern die elementaren Kulturtechniken beigebracht kriegen. Und seufzt dann wieder: »Aber zwingen kann man ja die Leute nicht.«
Was ist das Wichtigste, das sie ihren Schülern mitgeben will? »Positive Erfahrungen mit Beziehungen zu machen. Die haben ja oft noch nie einen Erwachsenen erlebt, der ihnen nicht eins reinwürgen will.« Um 8 Uhr 5 beginnt in der Malteserschule der Unterricht. »Ich habe einen Schüler, wenn der um neun Uhr eintrudelt, dann nehme ich ihn in den Arm und sage: Toll, dass du es geschafft hast. Denn ich weiß ja, die Eltern liegen noch im Bett.«
Betül Durmaz: »Döner, Machos und Migranten. Mein zartbitteres Lehrerleben.« Herder Verlag, 12,95 €