// Der Komponist Hans Werner Henze war einer der Haingötter der Kultur der alten Bundesrepublik. Er war 1926 geboren, er hatte gelitten unter dem Nationalsozialismus, er zählte zu denen, für die im Nachkriegsdeutschland von Anfang an alles falsch lief: Künstler und Intellektuelle von der Gruppe 47 über Stockhausen bis Adorno, die sich als Hüter und strenge Träumer einer Republik des Geistigen begriffen.
Auch Henze sehnte sich nach größerer Freiheit, als sie ihm das selbstgerechte Adenauerland, als sie ihm die sittenstrenge serielle Schule (Donaueschingen!) gewährte. Wahrscheinlich wollte er auch mehr Licht, denn er war in Gütersloh geboren. Henze ging nach Italien. Er traf Ingeborg Bachmann, er verlor sie, es begann seine große Zeit. Henze zeigte sich dezidiert politisch links, er vertrat eine kompromisslose ästhetische Moderne, später, als dies zum Adelszeichen wurde, durfte allen klar werden, dass er homosexuell war – historisch war er unangreifbar.
Da im 20. Jahrhundert erstmals die Zeitalter kürzer währen als ein Menschenleben, hat Hans Werner Henze die große Zeit des Fortschrittsglaubens und der Unerschütterbarkeit der Anschauungen überlebt und ist immer noch da und immer noch ein großer Komponist. Sein jüngstes Bühnenwerk wurde 2007 in Berlin uraufgeführt, »Phaedra«. Während der Arbeit an dieser Konzertoper wäre Henze um ein Haar gestorben, als sie fertig war, starb sein jahrzehntelanger Lebensgefährte. Aber immer noch will Henze komponieren und immer noch nimmt er diese Arbeit überaus ernst. Wozu vielen anderen und auch viel jüngeren Künstlern, die bei der RuhrTriennale in deren Industrieanlagen etwas aufführen wollen, die Geduld fehlt, das nimmt der 82-Jährige auf sich: Er lässt sich kreuz und quer durchs Ruhrgebiet fahren und durch weite, kalte Hallen führen, vier Stunden lang. Es ist ein eisiger Frühwintertag. Henze soll für die Saison 2010, im Kulturhauptstadtjahr, eine Oper für Jugendliche schreiben. Und Henze will dies auch, er ist schon dabei, er möchte herausfinden, wo sein Werk aufgeführt werden könnte. Und sich anregen lassen vom Geist der Orte. Dazu ist er hergeflogen aus Marino bei Rom, wo er lebt.
Die Sonne blitzt von draußen in die Gebläsehalle der alten Hochofenanlage in Duisburg-Meiderich, malt Licht auf den wie in einer Küche gekachelten Boden und die wie stumme Nutztiere dastehenden Aggregate, als Hans Werner Henze hereinkommt. Ein gebrechlicher Mann, ein zerbrechlicher. Er ist in einen Rollstuhl gebettet, Marke Trend 2000, kaum dass er ihn ausfüllt. Sein Gesicht zeigt das abschirmende Lächeln der Schwerhörigen, er ist ganz hingegeben an seine Lage. Michael Kerstan schiebt das Wägelchen, beugt sich zu Henze, gibt ihm Medikamente und zu trinken, sorgt zärtlich-gelassen für ihn wie ein Sohn. Kerstan war in den 80er Jahren Henzes Assistent bei dessen pädagogischen Arbeiten, er ist Regisseur und Autor. Zusammen mit Christian Lehnert, der schon »Phaedra« die Worte gab, sowie Henze selbst schreibt er jetzt das Libretto für die neue Oper.
»Ist ja wahnsinnig schön«, sagt Henze, kaum dass er einen ersten Eindruck der Gebläsehalle hat. Er sagt dies ganz leise, aber jeder hat es gehört. Seine Stimme ist schwach, aber der Tonfall ist frisch, beim Sprechen gleiten die Mundwinkel in ironische Bewegung. Henze liebt witzige Bemerkungen. Fragt man ihn, schaut er lange zur Seite. Dann blickt er dem Fragenden kurz ins Gesicht, dann in die Ferne, und dann kommt ein Bonmot. »Worum wird es in Ihrer Oper gehen?« – »Um die Liebe.« Und diese Entgegnung kommt einmal sehr rasch, fast stolz. »Lehnt sich der Stoff wieder an Mythologisches an?« Die Antwort hierauf ist etwas unwirsch: Nein, die Geschichte sei eine freie. Und dann, mit hochruckendem Kopf und beinah blitzen-den Augen, wissend um die Absurdität dieses Satzes: »Der 2. Akt spielt in Oberhausen auf dem Bahnhof.« Reihum Erstaunen, Lachen. Henze, mit kaum merklichem Amüsement, fragt nach: »Der ist doch nicht weit von hier?« Nein, wird ihm beschieden, das sei hier im Ruhrgebiet alles nah beieinander. »Doch wieso, Herr Henze, ausgerechnet auf dem Oberhausener Bahnhof?« – »Weil ich da noch nie war«, ist die Antwort. Das folgende prustende Gelächter wird von dem fragilen Mann mit stillem Vergnügen konstatiert.
Henze fragt nach Platzzahl, Beleuchtungsmöglichkeiten und Bühnengestaltung, macht Bemerkungen zur Akustik. Der Ausstattungsleiter der RuhrTriennale, Joachim Janner, ein Mann mit dem ausstrahlenden Glauben an die Verlässlichkeit des Physischen, erklärt alles Notwendige in Ruhe. Das Salzlager auf der Kokerei Zollverein in Essen sowie die Jahrhunderthalle in Bochum stehen noch bevor. Und Positionsnahme für die Fotografin. Vor den Kompressoren. Vor der Bühne. Vor einem Betonpfeiler. In der Weite der Halle. Michael Kerstan hilft Henze jeweils auf, zieht ihm den fellgefütterten Mantel aus, nimmt ihm die Kappe ab. Und dann geht Henze an seiner Hand mit kleinen, aber nicht schleppenden Schritten auf die Position, die man ihm zugedacht hat. Steht da, auch im Stehen klein. Ein wenig herumäugend, freundlich-verlegen lächelnd. Geduldig. Einverstanden und ein bisschen verloren, wie der König eines versunkenen Reichs. Jetzt, da sein Kopf unbedeckt ist, erkennt man, dass es noch dasselbe Gesicht ist wie auf den Fotos aus den 60er Jahren, den legendären: Er und die Bachmann zum Beispiel. Ein Gesicht, das trotz des hohen Alters fast faltenlos ist. Dieses römische Gesicht. Das sich in seinen wesentlichen Zügen erhalten hat. Ja, das ist Henze.
»Der gebürtige Westfale Henze zählt zu den wichtigsten lebenden Künstlern der Region«, schreibt das Kulturhauptstadtprogrammbuch, das für 2010 einen Schwerpunkt Henze ankündigt, mit fast allen Balletten, Sinfonieorchestern und Opernhäusern. Das Vorhaben ist löblich, aber die Vereinnahmung Henzes für das Ruhrgebiet bestenfalls peinlich. Henze weiß nichts vom Wandel des Reviers. Verlegen schüttelt er den Kopf. Um auf sicheres Terrain zurückzukehren, geht die nächste Frage nach Einzelheiten der geplanten Oper. Ach, eine Oper werde das gar nicht. Aber die passende Bezeichnung sei noch nicht gefunden. Ob die Liebesgeschichte denn gut ausgehe? »Schlecht«, ist die knappe Antwort. Und viel mehr sei einfach nicht zu sagen, das stehe alles noch am Anfang.
Die Jahrhunderthalle in Bochum beeindruckt Henze am meisten. »Aber sie ist zu groß für das, was ich vorhabe.« Lang und breit lässt er sich erklären, wie die Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns »Die Soldaten« 2006 an diesem Ort vonstatten ging. Aber den Bericht kommentiert er nicht. Für ein letztes Foto soll Henze sich auf einen einsamen Stuhl inmitten des gewaltigen, leeren Raumes setzen. »Ein großer Mann in einer großen Halle«, sagt der Ausstattungsleiter, bevor Henze sich setzt. Henze, auf seinen dünnen, verzierten Stock gestützt, hebt mit leisem Lachen den Kopf: »Dazu fällt mir kein Reim ein.« Kerstan aber weiß einen: »Groß sind wir doch irgendwie alle.«
»Hr. Henze« steht auf der Boarding Card, die an Henzes Rollstuhl baumelt. Und auf einem weiteren, roten Zettel steht: »Priority«. Zum Abschied möchte der große, kleine Mann von allen ein Gemeinschaftsfoto. Und den Damen küsst er die Hand. //