INTERVIEW: ULRICH DEUTER UND ANDREAS WILINK
K.WEST: Herr Goebbels, fast zehn Jahre hatten Sie Zeit, die Ruhrtriennale von außen zu beobachten. Wie hat das Festival auf Sie gewirkt?
GOEBBELS: Ich habe die Ruhrtriennale immer als gigantische Chance gesehen, etwas Neues unter professionellen Laborbedingungen zu entwickeln – vielleicht sogar als die einzige Chance in Deutschland. Denn Deutschland hat mit seiner reichen und reichhaltigen Theaterlandschaft nicht nur ein weltweit einzigartiges Opern- und Theatersystem, sondern auch eine starke Monokultur: d.h. freie Produktionsweisen sind nur im ›small scale‹, also in eher kleineren Häusern möglich (z.B. bei PACT in Essen oder im FFT in Düsseldorf). Im Grunde fehlt die Möglichkeit, auf einem mit den großen Häusern auch budgetär vergleichbaren Niveau frei von den Zwängen eines Repertoirebetriebs zu produzieren.
K.WEST: Ist diese Chance nach Ihrer Wahrnehmung bei der Ruhrtriennale bislang ausreichend genutzt worden?
GOEBBELS: Was ist ausreichend! Das kann ich so nicht beurteilen. Doch jetzt, wo wir uns über das Programm Gedanken machen, merke ich: Es gibt Vieles, das hätte ich auch gern gemacht.
K.WEST: Was zum Beispiel?
GOEBBELS: Zum Beispiel die Messiaen-Oper »Saint François d’Assise«, 2003. Ein Ansatz, der eine Fortsetzung fand mit Schönbergs »Moses und Aron« oder mit den »Soldaten« von Bernd Alois Zimmermann. Davon ausgehend würde ich gern eine Kontinuität formulieren: Werke zu produzieren, die im Repertoire der Häuser kaum vorkommen oder sogar herausgefallen sind – nicht weil sie schlecht sind, sondern weil sie nicht kompatibel sind mit der Institution und den Arbeitsweisen der Opernhäuser. Diesen Weg werden wir weiter gehen, vielleicht noch riskanter. Und dabei sicherlich auch die Schwerpunkte verschieben.
K.WEST: Die Inszenierung des »Saint François« hat ja etwas unternommen, was Ihnen wichtig ist, nämlich Musik und bildende Kunst zu verbinden – im Bühnenbild von Ilya Kabakov.
GOEBBELS: Ja, das ist eine der möglichen Schwerpunktverschiebungen. Mich interessiert es, die bildenden Künste genauer daraufhin zu untersuchen, welche Impulse sie der darstellenden Kunst geben können, oder wo sich beide Künste bereits berühren – wenn man den Theaterbegriff öffnet. Dafür steht vielleicht auch das, was ich selbst mache: Ein offener Theaterbegriff, unter dem auch grundsätzliche Annahmen von Präsenz und Expressivität in Frage gestellt werden dür-fen – etwa ob überhaupt jemand auf der Bühne sein muss …
K.WEST: Die Monokultur der Stadttheater, wie Sie es nennen, ist andererseits fleißig dabei, diese freie Art des Theaters personell und konzeptuell zu adaptieren und sich dadurch zu regenerieren.
GOEBBELS: Das ist auch für die freie Szene sehr gut, aber ich habe den Eindruck, dass auch die freien Ensembles dort dann eher ihre bereits entwickelte Ästhetik variieren als weiter experimentell zu arbeiten. Es gibt einfach Abläufe, die die Institutionen oft nicht ermöglichen können, zum Beispiel: unter Originalbedingungen zu proben; vielleicht sogar schon ein, zwei Jahre vorher mit den Proben zu beginnen. Was wir übrigens hier gerade einführen: Wir hatten jetzt im Herbst schon die ersten Proben in der Kraftzentrale und in der Jahrhunderthalle für drei Produktionen, die 2012 herauskommen werden … Es ist enorm wichtig, frühe Erfahrungen zu machen und sie wieder verwerfen zu können, das ist aber meist das Privileg einer freieren Produktionsweise. Unter vielen Theatermachern – Bob Wilson, Robert Lepage, Romeo Castellucci, Tim Etchells etc. – ist es längst Usus, so zu arbeiten.
K.WEST: Wie viele eigene Produktionen werden Sie selbst denn herausbringen?
GOEBBELS: Ich werde wahrscheinlich jedes Jahr eine Produktion selbst inszenieren; möglicherweise im nächsten Jahr sogar eine zweite.
K.WEST: Die Genres weniger trennen, Grenzen verwischen – Ihre Triennale wird demnach noch mehr das entwickeln, was seit Mortier Kreationen heißt?
GOEBBELS: Genau. Triennale meint eben nicht – was viele glauben – ein Festival alle drei Jahre, sondern drei Jahre lang eine gewisse Ästhetik, die ein künstlerischer Leiter immer mitbringt. Das möchte ich ernst nehmen. Ich lege auch großen Wert auf die Singularität eines Festivals. Eine künstlerische Erfahrung kann gerade dann besonders stark sein, wenn sie einzigartig ist. Und dass sich die Grenzen zwischen den Disziplinen auflösen, hat viel mit dem zu tun, was auch in meinen eigenen Stücken spürbar ist. Sie werden also im Programm viele Produktionen finden, bei denen man nicht mehr weiß, sind das noch Tänzer oder schon Sänger, Performer oder Amateure, Musiker oder Schauspieler. Diese Irritation in der künstlerischen Konfronta-tion, aber auch das Vergnügen des Entdeckens wird für die Zuschauer hoffentlich eine große Rolle spielen.
K.WEST: Damit würde sich die Triennale deutlicher als bislang von den anderen beiden großen deutschsprachigen Festivals, den Wiener Festwochen und Salzburger Festspielen, unterscheiden. Dort geht es recht spartenspezifisch zu.
GOEBBELS: Es ist von Vorteil, dass die Spartentrennung bei der Ruhrtriennale nicht personalisiert ist. Es gibt Festivals, bei denen die verschiedenen Kuratoren (für Tanz, Theater, Musik und Kunst) sich sogar Konkurrenz machen; und so manche interessante Produktion fällt dann zwischen die Stühle oder erreicht nicht das richtige Publikum. Bei der kommenden Ruhrtriennale kann man sich den Begriff der Kreation, den Mortier eingeführt hat, vielleicht sogar sparen, weil er auf so Vieles zutreffen könnte.
K.WEST: Über einen Programmpunkt können wir bereits reden, nämlich über eine Performance-Ausstellung, die im Sommer 2011 in Manchester herauskam und 2012 Teil der Triennale sein wird. Um was handelt es sich genau?
GOEBBELS: »Twelve Rooms« haben wir mit dem Manchester International Festival koproduziert und entwickeln es nach den ersten Erfahrungen dort noch weiter. Es handelt sich hierbei um lebende Skulpturen, living sculptures, die von namhaften bildenden Künstlern inszeniert und eingerichtet werden – eine wunderbare Möglichkeit, sich mit Körpern im Kunstraum auseinanderzusetzen. Teilweise verbleibt man in der Rolle des Zuschauers, teilweise wird man von diesen Performern auch angesprochen oder interagiert mit ihnen. Auch hier wird die landläufige Trennung der Disziplinen spürbar: In einem Museum ist der Blick auf solche Arbeiten ein anderer als der im Theater, weil die Begegnung hier einhergeht mit der Freiheit, sich in diesen Räumen nach Gutdünken zu bewegen und über Nähe und Entfernung selbst zu entscheiden. Also – anders als im Theater – definiert man selbst den eigenen Rhythmus der Auseinandersetzung. Trotzdem hat das viel mit dem Nachdenken über Körper und über Bewegung zu tun, wie es uns die zeitgenössische Tanzszene in den letzten 20 Jahren zeigt.
K.WEST: »Twelve Rooms« findet im Museum Folkwang statt. Ist das programmatisch begründet?
GOEBBELS: Mit dem Museum Folkwang haben wir einen kompetenten Partner für das Ausstellungsformat und uns beide interessiert es, an der Schnittstelle von den bildenden Künsten und den Performing Arts Publikumsperspektiven zu erweitern. Deswegen haben wir eine dreijährige Zusammenarbeit vereinbart, von der diese Ausstellung der erste Schritt ist.
K.WEST: Es bedeutet also keine Abkehr von den Orten der Industriekultur?
GOEBBELS: Im Gegenteil. Wir wollen uns sogar noch stärker auf diese Orte konzentrieren, die Auseinandersetzung mit den Räumen ernst nehmen. Also nicht eine kleine Black Box in die Kraftzentrale in Duisburg stellen, sondern tatsächlich ein Stück Musiktheater darin inszenieren, das die ganze Tiefe des Raumes nutzt.
K.WEST: »Die Utopie liegt in der Form«, hat Heiner Müller gesagt, ein Dramatiker, der für Sie von einiger Bedeutung ist. Die Hallen bringen auch eine Form mit…
GOEBBELS: Die Hallen bringen viel mehr mit als nur eine Form. Sie bringen Geschichte mit ins Spiel: die Energie, die von den Räumen einmal ausging, die Kräfteverhältnisse, mit denen man sich in der Kunstwelt der Theaterbühne normalerweise nicht auseinandersetzen muss. Deswegen darf man diese Räume auch nicht verhüllen. Das konventionelle Theater verkürzt doch oft Themen und Konflikte auf eine psychologische Figurenkonstellation, die dann auch noch repräsentativ abgehandelt wird. Das kann in diesen Räumen fast lächerlich wirken. Von den Künstlern, über die wir nachdenken und die wir einladen, erwarten wir, Kräfteverhältnisse sichtbar zu machen, die größer sind als die Konflikte, die man im Diskurs aushandeln kann, die Geschichte(n) auf andere Weise zu erzählen. Kräfte, die etwas mit Material zu tun haben, mit Größe, mit Distanz.
K.WEST: Muss sich der Zuschauer also auf etwas gefasst machen?
GOEBBELS: Das klingt ja abschreckend! Nein, ich möchte Arbeiten zeigen, die voraussetzungslos funktionieren. Aufführungen, in die man gehen kann, ohne das Libretto vorher gelesen zu haben, wenn es denn überhaupt eines gibt. Arbeiten, die durch sich selbst sprechen, durch ihre akustische oder visuelle Präsenz, bei denen man jene singulären Erfahrungen macht, die man woanders nicht machen könnte. Dafür muss man als einziges Offenheit und Neugierde mitbringen. Einen pädagogischen Impuls habe ich nicht, ich muss auch nicht provozieren.
K.WEST: Und diese Einladung, wollen Sie die unter einen Oberbegriff stellen? Der Triennale-Begründer Mortier hatte sich einem Motto verweigert, bei Flimm und Decker gab es welche.
GOEBBELS: Es gibt kein Thema – Themen schränken nicht nur den Kurator ein, sondern auch die Werke. Und vor allem den Blick der Betrachter. Was aber nicht ausschließt, dass urplötzlich Themen auf dem Tisch liegen, die zur selben Zeit von mehreren Künstlern bearbeitet werden, sich berühren, ergänzen. Und woraus sich doch ein Themenbündel bilden kann. Das kann sich aber für jeden Zuschauer anders darstellen.
K.WEST: Einen weiterer Programmpunkt ist auch schon bekannt geworden …
GOEBBELS: Ja, wir werden in der Kraftzentrale in Duisburg eine fast nie gespielte und selbst unter Fachleuten kaum bekannte Oper von Carl Orff aufführen: »Prometheus«. Sie ist komplett aus dem Repertoire gefallen – und wie ich finde zu Unrecht, denn vielleicht ist es eine der stärksten Musiken von Carl Orff, und auch ein von der musikalischen Architektur unglaublich modernes, weitsichtiges Stück. Die Oper ist wahrscheinlich verschwunden, weil sie so unpsychologisch ist – denn es geht um die Auseinandersetzung mit den Göttern, da spielt eben die Liebe nur eine geringere Rolle … Auch die Besetzung ist inkompatibel, man braucht vor allem Schlagzeuger, zwischen 15 und 20, eine Besetzung, die ein Opernhaus nicht so leicht liefern kann. Diese Oper – eine von zwei großen Musiktheaterarbeiten im nächsten Jahr – wird Lemi Ponifasio inszenieren, ein Theatermacher aus Samoa, der in Neuseeland lebt, und der damit für dreifache Entfernung sorgt: nicht nur weil die Halle so lang und die Sprache von Aischylos so alt ist. Sondern der auch geografisch und kulturell mit seinen starken Bildwelten für enorme, aber berührende Distanz sorgt.
K.WEST: Bei all dem spricht aus Ihnen sehr der Künstler …
GOEBBELS: … der ich auch zu bleiben versuche.
K.WEST: Der Intendant muss allerdings manchmal auch auf andere Dinge Rücksicht nehmen.
GOEBBELS: … ich habe ja auch Soziologie studiert …(lacht)
K.WEST: Die Befriedigung von Lukullischem, des Wunsches nach traditioneller Hochkultur ist nicht vorgesehen, kein Shakespeare oder Kleist, kein Mozart oder Wagner?
GOEBBELS: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ein Festival hat eine andere Funktion und sollte etwas anbieten, das uns aus dem Alltag auch unserer kulturellen Gewohnheiten herausführt, das uns mit dem Unbekannten und Fremden überrascht.
Die Ruhrtriennale heißt künftig im Untertitel »international festival of the arts«; 2012 findet sie vom 17. August bis 30. Sept. statt; www.ruhrtriennale.de