Der Schluss von Lessings »dramatischem Gedicht« hat immer etwas Problematisches. Die Verwicklungen lösen sich auf. Alle erweisen sich als Teil einer großen, die Religionen überspannenden (Wahl-)Familie. Dennoch bleibt der Eindruck eines vergifteten Happy Ends. Schließlich steht am Ende ausgerechnet Nathan mit leeren Händen da. Zwar finden die Liebenden auf eine Weise zusammen, die nicht ihren Sehnsüchten und Vorstellungen entspricht. Aber damit werden sie sich aller Wahrscheinlichkeit arrangieren, haben sie doch auf wundersamer Weise mehr als nur einander gewonnen. Ob das auch dem Kaufmann und Weisen gelingt, bleibt dagegen offen. Auch Stefan Bachmann inszeniert zunächst das Bild eines Einsamen und Verlorenen. Dabei bleibt es aber nicht. Noch einmal schaltet sich der von Margot Gödrös gespielte Engel ein und weist nicht nur Bruno Cathomas‘ Nathan einen Weg aus der Ungewissheit.
Vor zwei Jahren hatte Stefan Bachmann mit nahezu dem gleichen Ensemble in einem sehr ähnlichen Bühnenbild von Jana Findeklee und Joki Tewes Wajdi Mouawads Familien-Tragödie »Vögel« inszeniert. Ein Stück, dass sich durchaus als zeitgenössischer und zeitgemäßer Kommentar zu Lessings aufgeklärtem Drama lesen lässt. Damals endete eine Geschichte aus dem heutigen Nahost-Konflikt mit einem radikalen und drastischen Bild. Der auch von Cathomas gespielte David saß nackt am Rand der Bühne. Aus einem vom Schicksal geschlagenen Mann wurde ein großes Kleinkind. Ein Menetekel, das nun über Bachmanns Inszenierung von »Nathan der Weise« schwebt.
Von dem Moment an, in dem Cathomas zum ersten Mal auftritt, umgibt seinen Nathan eine Aura des Verlusts und der Zerbrechlichkeit. Trotz seiner massigen Gestalt wirkt er überraschend zart, den Stürmen der Welt ausgeliefert. Als Nathan zum ersten Mal vor den Sultan Saladin und dessen Schwester Sittah tritt, denen Kais Setti und Melanie Kretschmann einen halbseidenen Habitus verleihen, überspielt Cathomas die Furcht des jüdischen Kaufmanns kaum. Ein unterdrücktes Zittern liegt in seiner Stimme wie in seinen Gesten. Erst mit der Zeit und mit der Erzählung der Ringparabel kommt er langsam über seine Angst hinweg, wird selbstsicherer und damit auch stärker. In dieser Szene gelingt Bachmann und Cathomas eine präzise Studie über die Deformationen, die aus ungleichen Machtverhältnissen erwachsen.
Cathomas‘ Nathan ist weise, aber eben auch ein Mensch und damit voller Zweifel, Sorgen und Ängste, umgeben von Menschen, die noch fehlbarer sind als er. Allein hätte er trotz seiner Weisheit und Erfahrung kaum eine Chance, die Religionen zu versöhnen. Also stellt ihm Stefan Bachmann Margot Gödrös‘ Engel an die Seite. Sie, die mit angebrannten Flügeln sanften Schrittes über die Bühne geht und meist ein wissendes Lächeln auf den Lippen hat, ist nicht nur eine Mittlerin zwischen den Figuren des Stücks. Sie stößt auch hochaktuelle Diskussionen über das Profil von Attentätern und Terroristen oder über die Auswirkungen der Identitätspolitik an. Mit ihr bricht unsere Gegenwart in Lessings Drama ein und legt Linien offen, die von der Aufklärung direkt ins frühe 21. Jahrhundert reichen. Die Fremdtexte, die Gödrös meist mit sanfter Stimme, aber auch mit viel Nachdruck vorträgt, fügen sich natürlich nicht in die Sprache des Stücks ein. Sie bleiben Fremdkörper und schaffen so ein Spannungsfeld zwischen dem von Lessing formulierten Ideal und einer Wirklichkeit, die sich eher von ihm entfernt als sich ihm angenähert hat.
6., 8., 13. und 19. Oktober, Depot 1 (Schauspiel Köln)