INTERVIEW: ANDREAS WILINK
Er komme nun mal »aus Ikea-Land«, deshalb sehe es in seinem Büro kahl aus. Bis auf das Schmuckband der Fenster. Durch die Bullaugen im geschwungenen Korpus des Düsseldorfer Schauspielhauses schaut der überraschend vom städtischen Bauwahn noch nicht abgeholzte Teil des Hofgartens herein. Sonst sind die Wände nackt. Das fülle sich schon mit der Zeit. Überhaupt ist der Zeitfaktor beherrschender Gedanke. Die vor allem auch akustische Sa-nierung des 1970 eröffneten Bernhard-Pfau-Theaters wird nicht termingerecht fertig. Es gibt neue tolle Probebühnen und Spielstätten; gibt immer noch viel Geld an der von Stadt und Land NRW gemeinsam getragenen Schauspielhaus GmbH. Aber es gibt keinen ordentlichen Anfang. Von Mitte Oktober verschiebt sich das Datum, an dem Staffan Valdemar Holm mit »Hamlet« Premiere haben und seinesechsjährige Intendanz eröffnen wollte – vorläufig – auf den 4. November. Gewiss, »der Schock« sei groß, aber er werde schließlich dafür bezahlt, solche Situationen zu handhaben. Der Mann hat Nerven und gesunden Pragmatismus. Holm begegnet den Dingen und jetzt eben dem Desaster der Verschiebung, das etliche Konsequenzen – rechtliche, finanzielle, logistische, künstlerische – im Dominoeffekt nach sich zieht, mit minimalistisch hintergründigem Humor. Einwürfe und Andeutungen. »Normalerweise spreche ich nicht über Religion«: nur soviel angesichts der Sorge über eine noch über November hinausreichende Nicht-Fertigstellung. Heißt: Da hilft nur Beten. Bei Holm öffnet sich unter jeder zweiten Antwort mindestens ein doppelter Boden.
K.WEST: Herr Holm, glauben Sie noch an deutsche Sekundärtugenden, an Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Wertarbeit?
HOLM: Es geht nicht um Tugenden. So etwas kann passieren. Mir passiert es bereits zum zweiten Mal. In Malmö wurde im Theater gebohrt bis zwei Stunden vor Hochgehen des Vorhangs. Man muss sich eben umorientieren.
K.WEST: Das Glück des Anfangs ist kein geringes Pfund am Theater. Fürchten Sie um diesen Zauber?
HOLM: Ich fürchte alles und nichts. Aber wenn wir gut sein werden, spielt es keine so große Rolle, dass unsere Auftaktdramaturgie etwas zerstört wird. Schlechte Vorstellungen im Plan sind nicht besser als gute Vorstellungen außer Plan. Andererseits weiß man, dass manchmal für ein Theater der unmittelbare Renommee-Gewinn gar nicht so positiv sein muss. Probleme folgen dann nach der ersten Spielzeit, weil der Anspruch entsprechend hoch ist und vielleicht keine Deckung im Haus selbst hat.
K.WEST: Nehmen wir zum Vergleich Düsseldorf – Malmö, wo Sie in den Neunzigern Intendant waren und scherzten, das Haus vom heimischen Publikum leer gespielt zu haben. Stattdessen zog das Theater Zuschauer aus Stockholm an, das 650 km entfernt liegt, auch aus dem nahen Kopenhagen. Wen wollen Sie in Düsseldorf erreichen? Publikum aus Berlin, Hamburg, Amsterdam, Antwerpen, Paris?
HOLM: (lacht) Gern. Der große Unterschied liegt darin, dass Deutschland dezentral ist. Schweden nicht, wie fast alle anderen Länder Europas hat es ein Zentrum. In Malmö war es meine Aufgabe, eine Art Operettentheater radikal zu ändern, während eine schwere Finanzkrise Schweden traf und es mit dem multikulturellen Malmö bergab ging. Es gab riesigen Widerstand gegen uns. Die Traditionalisten wollten mich rausschmeißen. Aber man sieht heute dort, was Kultur bewirken kann. Die Stadt wurde tatsächlich verwandelt. Im Nachhinein hat man mich kanonisiert. Hier ist es so, dass ich für unser Konzept zunächst die Düsseldorfer gewinnen will – und die Leute in NRW. Theater ist etwas Lokales. Es steht deutlich in seiner Stadt.
K.WEST: Immerhin, Sie nehmen den regionalen Anspruch an. Das ist schon eine Behauptung.
HOLM: Klar. Wir werden zu 50 Prozent vom Land finanziert. Das verstehe ich so, dass das Düsseldorfer Schauspielhaus regionale und überregionale Bedeutung haben sollte. So die Herausforderung. Deshalb auch Projekte wie mit dem Théâtre National de la Colline in Paris für »Tage unter« von Arne Lygre – in Düsseldorf, Paris und Berlin, koproduziert mit dem Festival »Spielzeit Europa« der Hauptstadt. Dieses Modell ist eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Für ein Festival allein ist es zu teuer. Und ein Theater wie unseres kann das Weiterleben einer Aufführung garantieren.
K.WEST: Kontinuität ist ein wesentliches Leitwort, auch als Entwicklung für die Folgejahre. Was meinen Sie damit?
HOLM: Ich weiß nicht, was ich meine. Anders formuliert. Denken wir an ein Modell wie die alte Schaubühne. Wir haben sieben Schauspieler aus der Ära Stein, Grüber, Bondy, u.a. Imogen Kogge, Tina Engel und Udo Samel. Egal, wer dort was inszenierte, das Profil Schaubühne war eindeutig. Das lässt sich nicht wiederholen, Schauspieler machen heute Film und Fernsehen und gastieren parallel anderswo usw. Man kann sich nur diesen Prinzipien annähern – als Ambition, ohne zu wissen, wie genau man es bewerkstelligt.
K.WEST: Spüren Sie den Zwang zur Repertoire-Maschine und zum Startheater?
HOLM: Ich bin nicht naiv. Natürlich brauchen wir bekannte Schauspieler, auch weil sie gut sind. Ein Repertoire darf man nicht nur füttern. Sicher, wir produzieren viel, müssen wir auch. Das kann unfokussiert wirken. Und kann Horror vacui provozieren, jede Lücke noch mit etwas füllen zu wollen – durch einen Assistenten mit einem übrig gebliebenen Kollegen. Gar nicht gut! Man muss Zusammenhänge herstellen, so dass ein Schauspieler auf etwas aufbauen kann, das er zuvor erreicht hat. Wir werden nicht alles gleich schaffen. Aber wir müssen es wollen. Unser Konzept heißt: Ein bisschen weniger, ein bisschen besser – oder wenn möglich: viel besser.
K.WEST: Internationalisierung ist dezidiert Ihr Programm, aber nicht einfach als Engagement fremder Namen aus anderen Kulturen …
HOLM: Wir machen das ganz unneurotisch. Ohne Quotierung. Unsere leitenden Dramaturgen kommen aus dem Bereich, tätig bei der Kulturhauptstadt Tallinn und den Wiener Festwochen, und haben diese Erfahrungen und Networks. Und Regisseure wie Guillermo Caldéron oder Andrej Mogutschi finden wir einfach gut – und notwendig. Aber ein Motto will ich nicht dafür.
K.WEST: Sie haben beobachtet, dass das Schauspielhaus bevorzugt von hinten fotografiert würde und der Stadt den Rücken zukehre. Ihr die kalte Schulter zeigt – was auch umgekehrt gilt. Düsseldorfs Publikum ist bekannt für seine Lernunwilligkeit.
HOLM: Ach so?! Das klingt erschütternd. Aber es gibt zwei Seiten. Interessant ist: Düsseldorf hat 600.000 Einwohner, davon gehen 200.000 ins Theater. Köln hat 1,2 Millionen und gut 100.000 gehen ins Theater. Habe ich gehört. Mental würde man es anders vermuten. Die Düsseldorfer scheinen ins Theater zu gehen, ohne es zu wissen. Ich hoffe, dass sie zu uns kommen werden und es nachher auch wissen. Auch meine vier Vorgänger-Kollegen haben mir von ähnlichen Erfahrungen berichtet. Aber ich habe ein bisschen Angst davor, diese Vorurteile oder Wahrheiten zu zementieren.
K.WEST: Aber die Situation ist Ihnen bewusst.
HOLM: Als Neu-Düsseldorfer bekam ich vom Tourismus-Verband Gutscheine über 500 Euro für Kultur, Sport etc. und Info-Material. Von den Bühnen wird das Apollo-Revue-Theater darin als erstes präsentiert – vor dem Schauspielhaus und der Rheinoper. Schon merkwürdig!
K.WEST: Warum überhaupt Hamlet? Wollen Sie es sich schwer machen? Sie hätten nicht gemusst, als Schwede. Strindberg hätte es auch getan.
HOLM: Hatte ich überlegt. Jedenfalls wollte ich keinen deutschen Klassiker wagen. In Schweden und Dänemark habe ich das gemacht – Schiller. Aber hier? Da müsste ich mehr von der deutschen Aufführungstradition wissen. Wir wollten eine richtig große Eröffnung – »Hamlet« habe ich schon zweimal inszeniert. Ich fühle mich auch wohl mit Shakespeare. Für »Hamlet« gibt es nicht nur eine Deutung, eine Lösung. Und das Stück liegt dazwischen – spielt in Dänemark. Also zwischen Deutschland und Schweden.
KWEST: Wer ist dieser seltsame dänische Prinz, welcher Konflikt in der heillosen Familientragödie interessiert Sie?
HOLM: Das Drama spielt in einem politischen Gebiet, ohne ein politisches Stück zu sein. Wir haben die Hälfte gekürzt, den Krieg mit Norwegen gestrichen usw. Ich konzentriere mich auf die Familiengeschichte, den ethischen Konflikt und die moralischen Verschiebungen in den Sympathien. Der Mörder ist die Hauptperson, juristisch gesehen verantwortlich für sechs Tote. Da kann man nicht drauf antworten: Aber ich hab’ doch einen Geist getroffen. Außerdem ist »Hamlet« eine Geschichte über das Erzählen, übers Theater selbst auf mehreren Ebenen, berichtet vom überlebenden Horatio.
K.WEST: Reflexion des eigenen Mediums.
HOLM: Hamlet sagt, »Der Schauspieler kann alles ausdrücken, was ich nicht ausdrücken kann«. Doch dadurch drückt er sich selbst aus. Sehr raffiniert. Das erste Wort heißt »Who’s there?« – für mich der Schlüssel zum Stück. Es meint Identitätsunsicherheit – Wer bin ich und Wer bist du.
K.WEST: Das deutsche Stadttheatersystem vergleichen Sie mit einer Armee von Bismarck, die immerhin drei Kriege gewonnen hat. Sie wirken zwar relativ zivil, aber sind ein Rebell gegen starres Regelement.
HOLM: Wir müssen unnötige Hierarchien abschaffen. Es kann nicht sein, dass ein Theater altertümlicher und patriarchalischer organisiert ist als ein privates Unternehmen. Ich sehe die Tendenz, uns nicht zu verändern – strukturell. Google oder Facebook sind im Vergleich organisiert wie Spielplätze für junge Erwachsene, um Kreativität zu befördern.
K.WEST: Was heißt das konkret? Sie meinen doch nicht das alte Mitbestimmungsmodell am Theater.
HOLM: Dagegen bin ich zu 100 Prozent. Ansonsten kann ich nur sagen, dass wir mehr als Team arbeiten mit zwei leitenden Dramaturgen, was fast eine Revolution ist. Es geht darum, wie man informiert und Dinge kommuniziert. Aber man muss erst mit der Arbeit anfangen, um das zu verstehen und Hindernisse und Verhinderungen abzuschaffen.
K.WEST: Sage mir, wo du wohnst und ich sage dir, wer du bist. Für welchen Stadtteil haben Sie sich entschieden? Sie wollten jedes Viertel genau betrachten.
HOLM: Unterbilk.
K.WEST: Oberkassel hätte ich Ihnen auch nicht zugetraut. Flingern-Nord eher.
HOLM: Unterbilk ist ein richtiges Wohnviertel und hat eine Vielfalt vom Medienhafen bis zum Rand von Oberbilk. Es ist nicht so sehr Düsseldorf. Man kann laufen ins dörfliche Hamm, kann am Rhein sitzen. Ich wohne in den Arkaden in einem Neubau, in einer Jacques-Tati-Wohnung.
K.WEST: Alles automatisch?
HOLM: Fast. Und, wissen Sie, Flingern ist zu sehr in der Mitte von allem.
K.WEST: Und Sie sind lieber Außenseiter.
HOLM: Hier – ja.
Staffan Valdemar Holm, geboren 1958 im schwedischen Tomelilla, war von 1992 bis 1998 Intendant in Malmö und von 2002 bis 2009 Intendant am Königlichen Dramaten Stockholm. Dort gehe man ins Theater mehr wie in eine Kirche, sagt er: »Respekt, wenig Enthusiasmus und dann schnell nach Hause«. Für sechs Jahre wurde er zum Generalintendanten des Düsseldorfer Schauspielhauses gewählt. Die erste Spielzeit bietet 26 neue Produktionen an vier Spielstätten. www.duesseldorfer-schaupielhaus.de