Ein Cinema Paradiso ist es nicht. Alles andere als das – als goldgerahmte Nostalgie und schmerzlich schöne Erinnerung. Hier, in »Eine Sekunde«, regiert der Mut der Verzweiflung.
Ein reisender »Kino-Onkel« (Fan Wei) unterwegs im Nordwesten Chinas von einer Einheit zur nächsten, die in der Ödnis der Steppe abkommandiert sind, führt als einzige Abwechslung Filme vor. Opium fürs Volk. Ein ‚reitender Bote’ auf dem Motorrad wiederum transportiert die Filmrollen von A nach B. »Heroische Söhne und Töchter« heißt die den kommunistischen Sieg, den Aufbau und die Zukunft feiernde Produktion, die auf improvisierte Leinwände projiziert wird. Blut, Schweiß und Tränen – wir kennen das. Vorab laufen Wochenschauen mit der Botschaft von Leistung und Produktivität. Wir sind im China der siebziger Jahre, das Maos Kulturrevolution durchlebt und durchleidet. Dennoch schlagen wir gedanklich die Brücke in die Gegenwart, in der das gigantische Land mit seinem Herrschaftssystem uns nicht weniger fremd geworden ist. Und erleben den Einbruch der vergangenen Zeit in unsere akute Zeit.
Die Kamera erfasst einen Mann, winzig in der Steppe. Und dann ein Mädchen. Zhang Jiusheng (Zhang Yi), geflohen aus einem Arbeitslager, setzt alles daran, die Wochenschau Nr. 22 zu sehen, von der er gehört hat, dass auf dem Filmmaterial eines propagandistischen Beitrags seine jung verstorbene Tochter als vierzehnjährige Arbeiterin ‚verewigt’ sein soll. Nur eine Sekunde lang – für den Vater die einzige Zeit, die zählt. Liu (Liu Haocun), ein Waisenkind, wiederum braucht etwas Zelluloid, um daraus einen Lampenschirm zu fertigen, damit ihr kleiner Bruder es hell hat beim Lesen und sich nicht die Augen verdirbt. Beide gehen zäh, verbissen und rücksichtslos zu Werke. Sie haben nichts zu verlieren.
Mühevoll reinigen die Leute der Dorf-Brigade, für die das Filmprogramm auf Tour ist, mit destilliertem Wasser die verworrenen und verschmutzten Filmstreifen, die durch Unachtsamkeit im Wüstensand gelandet und durcheinandergeraten waren. Das Kollektiv kann mehr als der Einzelne allein. Aber auch der Verursacher dieses Missgeschicks, der Sohn des Filmvorführers, ist kein bloßer Tölpel, sondern ein Geschlagener. In gewisser Weise trägt das Kino die Schuld an seinem Hirnschaden. So hat alles zwei Seiten.
Ein Politikum
Es geht lärmend zu und brutal, manchmal aber leuchtet bei den Menschen ein Gefühl und Mitgefühl auf. Oder ist es nur die Maske von Verrat, Vorteilsdenken, Opportunismus und Lebensangst? Aufgestaute Aggression, die die Volksrepublik offiziell nicht kennt, bricht sich leicht Bahn. Das Andere liegt verborgen. Wie weit voneinander getrennt sind die Komödie des Scheiterns und die Tragödie des Scheiterns; wie mischen sich Schicksal, Zufall und Absicht?
Der 1950 geborene Zhang Yimou, dem mit seinem Debüt »Rotes Kornfeld« 1987 gleich ein Welterfolg und der Gewinn des Goldenen Bären gelang, hat sich zum Staatskünstler und Repräsentanten entwickelt und ist in »Eine Sekunde« doch – dezent – mit Konterbande unterwegs, von der niemand genau weiß, wann sie von Chinas Machthabern und Zensoren als solche eingeschätzt wird. So auch bei dem meisterlich erzählten »Eine Sekunde« in seiner kunstvollen Offenheit und schlichten Würde, der 2019 wiederum für den Wettbewerb der Berlinale ausgewählt war und kurzfristig wegen »technischer Gründe« zurückgezogen wurde. Ist es das größere Politikum, dass er in den Tresor oder dass er jetzt frei kam?
Zhang Jiusheng wird geschnappt und zurück ins Lager gebracht, wo er noch zwei Jahre in Haft bleibt. Vorher steckt ihm »Kino-Onkel« noch den Schnipsel Zelluloid mit zwei Einzelbildern seiner Tochter aus der Wochenschau zu. Der Streifen aber geht verloren: vom Winde verweht.
Gütiges Lächeln, Hoffen und Staunen sehen wir beinahe nur in dem Propagandafilm »Heroische Söhne und Töchter«. »Eine Sekunde« arbeitet mit der Beklommenheit erzeugenden Gegen-Stimmung. Auf die Erfahrung des Verlusts antwortet dann doch noch – freilich von Zhang Yimou als Epilog hinzugefügt – eine ganz zarte Geste der Freundschaft.
»Eine Sekunde«, Regie: Zhang Yimou, Volksrepublik China, 2019 bis 2021, 100 Min., Start: 14. Juli