Viertel vor neun am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Auf Gleis 20 wartet bereits der nachtblaue Nightjet der ÖBB. Abfahrt 20.54 Uhr, Ankunft in München, so alles klappt, um 7.29 Uhr am nächsten Morgen, 60 Minuten später weiter Richtung Süden. In den Stunden dazwischen: Schlafen, wenn die schmale Liege und das Ruckeln des Zuges es zulassen. Wann immer ich mich im Liegeabteil einrichte, kommen die Zweifel: finde ich Schlaf, erreiche ich erholt das Ziel oder werde ich dort erschöpft ins Bett fallen und den gewonnenen Tag gleich wieder verlieren? Dabei weiß ich es besser. Mehrmals im Jahr bin ich nach Österreich oder mit Umstieg in München bzw. Linz weiter nach Ljubljana oder Maribor unterwegs, immer mit dem Nachtzug – immer klappt’s mit der Nachtruhe. Es ist eine fast vergessene Art des Reisens durch Europa.
Im Abteil kämpft eine Frau mit dem zu Bretthärte gemangelten Laken. Anja heiße sie und wenn man schon auf dieser Enge gemeinsam schlafe, könne man sich auch gleich duzen. Ich helfe mit dem Baumwolltuch, das gleichzeitig Laken und halber Schlafsack ist, und erfahre, dass sie in Amsterdam arbeitet und zu ihrer Mutter nach München reist. Mindestens einmal im Monat sei sie auf der Strecke unterwegs, meistens per Flugzeug. Diesmal waren die aber zu teuer; während es für den Nachtzug noch preiswerte Tickets auf der »Sparschiene« gab, wie das bei der ÖBB heißt. Mittlerweile ist das Laken gerichtet und Anja hat sich mit dem Prinzip der Bettwäsche angefreundet.
Der Exot unter den Verkehrsmitteln
Ein weiterer Mitfahrer steigt ein. Zunächst arg wortkarg.. Arsene heißt der Rumäne, ist um die 30 und mit dem Motorrad in Europa unterwegs; er will mit dem Zug bis nach Innsbruck, um von dort durch die Alpen zu touren, erzählt er nach anfänglich sprachlicher Unsicherheit in gebrochenem Englisch. Der Nachtzug ist heutzutage der Exot unter den Verkehrsmitteln. Wer bei uns weite Strecken zurücklegen will, wird zuerst ans Flugzeug oder das eigene Auto denken. Wenn jemand sehr sparen muss, ist der Reisebus die Wahl. Dennoch sind Nachtzüge gut ausgelastet. Dafür gibt es Gründe, die Mitreisende einem anvertrauen. Flugangst ist ein häufiger; die Möglichkeit, das Motorrad oder Auto mitzunehmen, ein anderer; ungünstige Flugverbindungen zwischen Wohn- und Urlaubsort ebenso. Und oft ist es einfach eine bewusstere, leicht romantisch gefärbte Einstellung zum Reisen an sich. Von Eltern, die mit ihren Kindern unterwegs sind, ist zu hören, so werde die Fahrt in den Urlaub schon zum gemeinschaftlichen Erlebnis.
Keine gute Idee wäre es, in einen Nightjet der ÖBB zu steigen, weil man gerade die Neuverfilmung von »Mord im Orientexpress« im Kino gesehen hat. Samtvorhänge mit Goldbordüren und edle Tropenhölzer sucht man ebenso vergeblich wie den Salonwagen, in dem bei Cognac die Zigarre geraucht wird. Selbst die Schlafwagenabteile für eine oder zwei Personen haben, immerhin bei eigener Dusche, den Charme eines japanischen Automatenhotels. In neueren Wagenmodellen sind zwar auch im Sechser-Abteil die Liegen etwas länger, breiter und besser gepolstert, aber dafür hat die Tür mit ihren Riegeln und dem Plastiksichtschutz vor der Scheibe etwas von einem Zellenverschlag. Kein Glamour also, dennoch lässt sich eine leicht nostalgische Reiselust befriedigen.
Trotz des rasanten »Jet« in seinem Namen spielt Geschwindigkeit keine Rolle. Im Gegenteil: Um die Vorzüge des Nachtzugs wirklich zu nutzen, muss er langsamer als ein ICE sein, sonst bliebe auf Strecken wie etwa der Düsseldorf – München nicht genug Zeit zum Schlafen. Als die Deutsche Bahn in den späten 1970ern Jahren begann, mehr und mehr im Fernverkehr auf Großraumwagen zu setzen, ging es nicht nur um räumliche Effizienz, sondern zugleich um einen Imagewechsel. Wie im Flugzeug sollte es nun aussehen, Modernität und Geschwindigkeit signalisiert werden. 80 Prozent der Fahrgäste bevorzugen laut Umfrage heute die anonymere Sitzanordnung; das Abteil, außer in Sonderformen wie für Familien-Nutzung, wird bald ganz aus dem deutschen Schienenverkehrsnetz verschwunden sein.
Wo das Abteil überlebt, wird die Zugfahrt zu Reise
Auch ich breite mich lieber mit Laptop, Unterlagen und Kaffee auf zwei Sitzen im Großraumwagen aus, wenn ich die Reise zur Arbeit nutzen will. Im Nachtzug nicht, da suche ich nicht ein fahrendes Büro, sondern – pathetisch gesagt: das Abenteuer Europa. Wo das Abteil überlebt, wird die Zugfahrt zur Reise. Was für Menschen werden es sein, mit denen ich die Stunden auf engstem Raum verbringe? Wo kommen sie her, wo fahren sie hin? Welche Geschichten bringen sie mit und erwarten sie? Es ist eine spezielle Intimität auf Zeit: eine Nacht mit völlig Fremden, die man vermutlich nie wiedersieht. Diese besondere Situation führt nicht selten zu ungewöhnlicher Offenheit und Vertrautheit. Dafür nehme ich in Kauf, dass mich die Mit-Passagiere am nächsten Morgen mit zerzauster Frisur und zerknautschtem Gesicht sehen, dass ich vielleicht irgendwann aufwache, weil jemand schnarcht oder im Morgengrauen seinen Koffer von der Ablage wuchtet, weil er früher aussteigt.
Im Herbst 2016 stellte die DB, ungerührt von zahlreichen Protesten, das Nachtzuggeschäft vollständig ein. Es sei unrentabel, die Wagenflotte veraltet. Dann entschieden ad hoc und quasi über Nacht die Österreichische Bundesbahnen, die Züge und Verbindungen zu übernehmen. Ende 2017 erklärte die ÖBB, trotz zusätzlicher Kosten für eine Modernisierung der Züge laufe das Geschäft bereits rentabel. In den nächsten Jahren sollen neue Wagen angeschafft und die Routen erweitert werden. Der Tagesspiegel recherchierte im Dezember 2017, dass das enorme Defizit der Nachreisezüge bei der DB vor allem aus Rechentricks in der undurchsichtigen Tocherunternehmen-Struktur entstanden sei. Gut ausgelastet waren die Züge nämlich immer schon; und am Fahrpreis hat sich mit der ÖBB nichts verändert, außer dass die Reservierung im Liegewagen nun 20 statt zehn Euro kostet, dafür aber Frühstück enthält. Die Vermutung liegt nahe, dass die DB schlicht kein Interesse am Nachtzug hatte. Im Marketing fand er kaum einen Platz neben der Hochgeschwindigkeits-Ideologie der ICEs. Nachtträumend gemächlich durch halb Europa rattern – unmodern für den bis heute staatseigenen Konzern.
Die DB hat die Nachtzüge im hintersten Winkel ihrer System abgelegt
Die ÖBB ist offenkundig traditionsbewusster. Wien hat in der Hinsicht Berlin was voraus. Dabei ist der Kauf von Tickets für deutsche Kunden gar nicht so einfach. Wer ausschließlich im Nightjet reist, kann zwar einfach bei der ÖBB online buchen. Wer aber zusätzlich Anschlusszüge (und das zum Komplettpreis wie etwa dem »Sparpreis Europa«) nutzen will, scheitert schnell. Online sowieso und selbst am Schalter der DB braucht es gehöriges Knowhow und etliche Tricks. Vieles deutet darauf hin, dass die DB die Nachtzüge im hintersten Winkel ihrer Systeme abgelegt hat, um lieber die eigenen Tagesverbindungen zu verkaufen, selbst wenn darin auch Züge anderer europäischer Bahnen enthalten sind. Als wolle die DB den Nachtzug aus ihrem Gedächtnis löschen. In Zeiten wachsender Europaskepsis ein falsches Signal, denn direkter und intensiver ist Europa kaum zu bereisen.
Kurz vor sieben klopft es an der Abteiltür. Der Schaffner weckt uns. Arsene und zwei weitere Fahrgäste, deren Zustieg in Frankfurt ich verschlafen hatte, rekeln sich unter der Decke. Um sie nicht zu stören, frühstücken Anja und ich auf dem Gang: Brötchen, Butter, Marillenmarmelade und Kaffee. Auf dem Bahnsteig verabschieden wir uns. Für mich ist das Ziel noch nicht erreicht.