Jede Minute zählt. Mit Schirmkappe und verschmiertem Blaumann kommt Johanna Reich die Treppe herunter und öffnet die Haustür. Der zum Gruß hingestreckten Hand weicht sie aus und weist auf die schwarze Farbe an den Fingern. Sie klebt auch in der Luft, obwohl die Fenster offen stehen. In Reichs Raum auf der ersten Etage des sterilen Atelierhauses im Kölner Stadtteil Poll sieht es schwer nach Arbeit aus. Auf dem Tisch liegen ein paar frisch durchgeknetete Tonklumpen, in denen man Gesichter zu erkennen glaubt. Quer durchs Atelier zieht sich eine große Leinwand, an der sie offenbar gerade hantiert.
»An Weihnachten hatte ich das letzte Mal frei«, lächelt sie. Seither stehe der Wecker auf sechs, auch am Wochenende. Denn in Rekordzeit hat Reich gleich zwei Ausstellungen zu bestücken. Im Max Ernst Museum in Brühl startete Ende Februar ihre bislang größte Einzelschau; gleichzeitig zeigt die 40-Jährige in der Kölner Galerie von Priska Pasquer neueste Arbeiten, die zerknautschten Gesichter sind auch dabei.
Ton, Farbe, Leinwand – das Material könnte auf eine Künstlerin schließen lassen, die eher traditionell tickt. Das ist Reich aber ganz und gar nicht. Sie selbst beschreibt sich als »Technik-Nerd«. Wer ihr eine Weile zugehört hat, weiß warum. Die Leinwand ist nicht als Gemälde, sondern vielmehr als malerisch modulierte Projektionsfläche für ein wunderschön poetisches Video gedacht. Auch die urigen Tonmasken auf dem Tisch stehen nicht für sich; sie illustrieren sozusagen die Regeln des Digitalen. Denn das Smartphone war immer dabei, wenn Reich den Ton in Händen hatte. Sobald die Gesichtserkennung so etwas wie eine menschliche Physiognomie im Klumpen erkannte, hat Reich ihre formende Arbeit am Porträt abgebrochen.
Wo und wann beginnt das Menschliche in den Augen der Maschine? Das Auftauchen der Existenz und ihr Verschwinden, die sich auflösenden Grenzen zwischen Netzwelt und realer Welt, Schein und Sein – Themen, die Reich reflektiert in ihren Arbeiten. Ein roter Faden, den sie auch in Brühl aufnimmt. Unter dem Titel »gestohlene Welt« kommen 20 Arbeiten der vergangenen zehn Jahre zusammen, die viel zu tun haben mit den digital bedingten Umbrüchen unserer Zeit, ohne sie zu feiern oder zu verdammen.
Es sind gemischte Gefühle, mit denen Reich dem technischen Fortschritt begegnet. Was sie aber nicht daran hindert, permanent mit neuesten Möglichkeiten zu experimentieren. In Blogs und Zeitschriften hält sie sich auf dem Laufenden, investiert in Panoramakamera oder VR-Brille. Seit einem Computerkurs während des Kunststudiums lässt die Technik-Faszination sie nicht mehr los. So kam es vielleicht auch, dass sie nach der Akademie in Münster noch ein Postgraduiertenstudium an der Kunsthochschule für Medien in Köln aufnahm.
Schon die frühen Arbeiten knüpfen da an: 2009 etwa filmte Reich von oben in den verschneiten Garten hinter ihrem Haus. Sie selbst tritt ins Bild und beginnt, dunkel gekleidet, im Weiß zu buddeln. Es dauert nicht lang, bis sie verschwunden scheint – und mit ihr das Vertrauen in die Wahrheit des Mediums Film. Denn Reich ist natürlich noch da, der Apparat kann sie nur nicht mehr ausmachen. Die Wirklichkeit hat die inzwischen allgegenwärtige Überwachungstechnik ausgetrickst.
Das Wechselspiel beider Sphären ist allgegenwärtig. Wenn Reich dem »Big Brother« eine Nase dreht oder sie dem Verschwinden der Handschrift nachspürt. Wenn sie der medialen Bilderflut einzelne Momente entreißt, um sie, auf Fahnen gedruckt, zu verewigen. Oder wenn sie vergessene Künstlerinnen des vergangenen Jahrhunderts ins Netz einspeist und so zurückholt ins Gedächtnis.
Sehr oft sind aufwändige Recherchen Teil der Arbeit. Reich forscht, stöbert in Archiven, führt Interviews. Das alles gehört zu ihrer Kunst, wird vom Markt aber kaum registriert, erst recht nicht honoriert. Eine Galeristin habe ihr einmal empfohlen, sich eine künstlerische Handschrift zuzulegen – bei einer Masche zu bleiben, damit die Leute ihre Werke wiedererkennen. »Dafür mache ich meine Kunst aber nicht«, so Reich mit Nachdruck. Gleichgültig ist ihr der Draht zum Publikum aber keineswegs. Sie erklärt sich und ihre Arbeit gut und gerne, an diesem Vormittag im Atelier oder bei etlichen YouTube-Auftritten.
Folgen kann man dort etwa einem Referat über das Großprojekt »Heroines«, das 2016 seinen Niederschlag auf rund 200 Kölner Litfaßsäulen fand. Plakatiert waren verstörende Porträts junger Frauen, die sich per Projektion vermischt hatten und eins geworden waren mit den medial vermittelten Fotos ihrer selbst gewählten Idole. »Wir haben einen Punkt erreicht, an dem sich die Trennung zwischen beiden Welten auflöst«, wirft Reich ein und bringt Datenbrillen ins Gespräch, durch die das Auge die digitale und die reale Welt gleichzeitig wahrnimmt.
Auch »Sophia« kommt Reich in den Sinn, ein selbstlernender Roboter mit weicher Haut und mimischen Gesichtsregungen. »Sophia« kann Witze machen und lachen. Nun grinst auch Reich: »Am liebsten hätte ich ja einen Teil des Katalogtextes zur Brühler Ausstellung von einer künstlichen Intelligenz verfassen lassen.« Beim Wetterbericht funktioniere so etwas schon ganz gut, für den Text über Kunst habe sich die Technik dann aber noch als ungenügend erwiesen. Dennoch: »Das ist die Zukunft, leider«, so Reich. Und verschwindet wieder hinter ihrer ganz realen Leinwand, um sich mit dem dicken Pinsel in der Hand der analogen Welt zu widmen. Bis zur Ausstellungseröffnung muss die Farbe schließlich trocken sein.
MAX ERNST MUSEUM BRÜHL DES LVR: »JOHANNA REICH – DIE GESTOHLENE WELT« BIS 8. APRIL 2018
GALERIE PRISKA PASQUER, KÖLN: »JOHANNA REICH. SIMULACRUM«, BIS 7. APRIL 2018