Multiperspektivisches Erzählen gehört wohl seit Beginn der Literatur zum Basis-Instrumentarium von Autor*innen. Und doch schien es, als sei Marion Poschmanns Blick auf ihre Figur Gilbert eine so sprachlich bezwingende Erzählung, dass sie keine Fortsetzung vertrage: Ein mäßig erfolgreicher Wissenschaftler träumt darin, seine Ehefrau würde ihn betrügen, woraufhin er sich ins Flugzeug setzt und nach Japan flüchtet.
Eine Fortsetzung ihres Erfolgsromans »Die Kieferninseln« ist Poschmanns neues Buch »Chor der Erinnyen« nun auch tatsächlich nicht geworden. Erzählt wird vielmehr die Parallelgeschichte. Während Gilbert nach Japan fliegt, dort den lebensmüden Studenten Yosa Tamagotchi trifft und auf den Pfaden Bashōs reist, wartet seine Frau Mathilda zu Hause und glaubt, ihr Mann sei auf einer Dienstreise. Doch nur die Leerstellen in Form der Ehepartner*innen halten beide Romane zusammen, die gleichsam von unterschiedlichsten Menschen erzählen und doch sich in ihrer fragilen Erzählweise, ihrer humorvollen Haltung gegenüber den Protagonist*innen gleichen.
Unerhörte Begebenheiten
Ist ihr Mann emotional eher instabil und von seinen Affekten beherrscht, scheint Mathilda das genaue Gegenteil zu sein. Die gesetzte Studienrätin für Mathematik und Musik führt ein durchschnittliches Leben mit einem durchschnittlichen bis etwas überdurchschnittlichen Gehalt und hält insgesamt eher wenig von emotionalen Ausbrüchen. Während ihr Mann auf den Spuren des japanischen Dichters Bashō wandert, ist selbst Musik für sie eine rein technische Angelegenheit, die nicht mit Gefühlsduselei verwechselt werden sollte. Gerade, als Mathilda sich für ein Wanderwochenende mit ihrer Freundin Olivia fertig macht, erscheint Birte: Eine Freundin aus Kindertagen mit einem eher undurchsichtigen Anliegen. Statt durch die Wälder der Kieferninseln zu ziehen, spaziert Mathilda daraufhin nicht nur mit ihrer Freundin Olivia umher, sondern auch mit ihrer Kindheitsbekanntschaft von einst. Als der Wald anfängt zu brennen, entwickelt das sich allerdings nicht zu einem zentralen Spannungspunkt, sondern bleibt beinahe eine Nebensächlichkeit.
Die Erzählungen von Marion Poschmann, die in Essen geboren wurde und dort und in Mülheim an der Ruhr aufwuchs, erzählen von unerhörten Begebenheiten. Eine gewisse Ungewissheit bleibt, ob nicht doch alles nur Projektionen der inneren Verknotungen im Seelenleben der Protagonist*innen sind. Birte, die Schulfreundin, erscheint mehr und mehr wie ein Geist, eine Heimsuchung, während Mathildas Mutter, vorher nur spärlich in ihrem Leben vorhanden, eine neue Macht über sie gewinnt. Poschmanns Erzählhaltung ist dabei so lakonisch und voller Ironie, ihre Sprache stark und doch gleichzeitig fragil – und von großer poetischer Kraft.
Marion Poschmann: Chor der Erinnyen, Suhrkamp Verlag, 189 Seiten, 23 Euro
Das Buch erscheint am 11. September 2023
4. Oktober, Haus der Bildung, Bonn
2. November, Stadtbibliothek, Bielefeld
3. November, Buchhandlung Proust, Essen