TEXT STEFAN LAURIN
Ein Blick auf den Essenstisch genügte, schon damals im Mittelalter. Ein Blick auf das, was da auf den Tisch kam, und schon war klar, wessen Mahl hier gerade aufgetischt wurde: Während sich der Adel ein kräftigendes Stück Fleisch auf den Teller legte, steckten die Bauern ihre Holzlöffel in einen Topf voller Brei. Der französische König Ludwig XIV. schätzte Geflügel und frisches Gemüse, das in großer Auswahl von seinem Gärtner Jean de La Quintinie für die Küchen in Versailles angebaut wurde. Währenddessen kamen bei den meisten seiner Untertanen tagein, tagaus nur Brot und Bohnen auf den Tisch. Immerhin sorgten die Industrialisierung und der wachsende Wohlstand dann dafür, dass der Hunger seltener und die Auswahl an Lebensmitteln für die Allgemeinheit größer wurde: Immer häufiger gab es nun auch bei Arbeiterfamilien Braten, Kuchen und Obst – und später womöglich Salami-Pizzen aus dem Tiefkühlfach oder Ravioli aus der Dose.
Ja, es gibt seit einigen Jahrzehnten so etwas wie eine lukullische Demokratie. Denn inzwischen können wir uns nahezu alles an Lebensmitteln leisten. Spätestens seit Ende der 70er Jahre allerdings dient das Essen nicht mehr nur dem Genuss und der Sättigung. Es ist zu einer Art Ausdrucksform geworden. Oder anders formuliert: Zeig mir, was du isst, und ich sag dir, wer du bist. Los ging es in den ersten Bio-Läden, in denen es vor 30 Jahren nur eine magere Auswahl an wenig appetitlich aussehenden Äpfeln, Kohlrabi und Kartoffeln gab. Um Spaß ging es hier nicht, sondern um das richtige Bewusstsein – dafür musste man auch leidensbereit sein. Denn Essen sollte in erster Linie gesund sein und zu einer vermeintlich besseren Welt beitragen.
Für den Lebensmittelchemiker Udo Pollmer sorgt der Kult um Bio-Lebensmittel heute allerdings weder dafür, die Welt zu verbessern, noch ist er – zumindest aus seiner Sicht – der Gesundheit förderlich. »Der Bereich boomt, weil er hilft, sich von anderen Menschen abzuheben. Andere Gründe sind vorgeschoben. Dass Bio-Lebensmittel gesünder sein sollen, ist eine religiöse Überzeugung. Wer heute eine Diät macht, sagt ›Ich lebe vegan‹. Bei Einladungen kann man sagen: ›Ich kann Fleisch aus ethischen Gründen nicht essen‹. Dahinter steht Vanitas, der leere Schein.«
Dabei war Pollmer einst Liebling der Ökoszene. »Iß und stirb. Chemie in unserer Nahrung« hieß sein Erstlingswerk, in dem er den zu sorglosen Umgang mit Chemikalien in der Landwirtschaft aufdeckte. Nun räumt der Lebensmittelchemiker mit Mythen in Sachen Bionahrung auf. Biologisch erzeugte Produkte, sagt Pollmer, seien nicht gesünder als jene aus konventionellem Anbau. Im Gegenteil: »Weil Biolebensmittel ohne chemische Pflanzenschutzmittel erzeugt werden, erscheinen sie in den Augen vieler Verbraucher als besonders sicher. Gegen alle Fakten glauben sie, Lebensmittel seien dann besonders gesund, wenn sie naturbelassen sind«, schrieb Pollmer in einem Essay im Focus-Magazin. Dabei machten erst Züchtung und Verarbeitung aus nährwertlosen Gräsern Brotgetreide und aus unverdaulichen Wildfrüchten schmackhaftes Obst. »Ohne die modernen Methoden der Konservierung wurden in früheren Zeiten ganze Dörfer durch verdorbene Nahrungsmittel dahingerafft.«
Dazu passt, dass laut einer Statistik der Welthungerhilfe besseres Saatgut, effektivere Pflanzenschutzmittel und Fortschritte bei der Agrarchemie und Logistik die Pflanzen widerstandsfähiger gemacht haben. Das Ergebnis: Der Anteil hungernder Menschen in der Weltbevölkerung gehe seit mehr als zwei Jahrzehnten stark zurück. Ist die Ernährung von bald neun Milliarden Menschen überhaupt anders als durch industrielle Landwirtschaft machbar?
Sicher ist: Es gibt begründbare Gegenpositionen und alternative Lösungen. Dies belegt etwa eine preisgekrönte Film-Dokumentation wie »Tomorrow« von Cyril Dion und Mélanie Laurent, in der Strategien gegen einen globalen ökologischen Kollaps vorgestellt werden wie auch imponierende Initiativen für eine kleinteilige ökologische Entwicklung, Gesundung und Ernährung. Und sicher ist auch: Udo Pollmer mag mit seinen Thesen vielleicht so etwas wie der »Antichrist der Esskultur« sein, wie ihn das Handelsblatt bezeichnete. Aber er hat wohl auch Recht, wenn er sagt, dass sich Menschen auch über ihr Essverhalten definieren.
Sag mir, was du isst, und ich sag dir, wer du sein willst – und im Zweifel sogar, wo du wohnst. Der typische Vegetarier sei jedenfalls, so hat es Thomas Schönberger, der Vorsitzende des Vegetarier-Bundes »Vebu«, in der WAZ erklärt, »weiblich, jung und gebildet«. Statistisch gesehen lebt er in einer westdeutschen Stadt. Und womöglich kauft er auch noch bei Aldi oder Lidl, die ihre einst ramschigen Supermärkte gerade in kleine Bio-Paradiese umbauen. Flächendeckend, in ganz Deutschland, und natürlich auch auf dem Land. Womöglich verzichten daher schon bald auch ältere Herren in der ostdeutschen Tiefebene konsequent auf Fleisch – und kaufen auch noch Bio.