Körper, die wie aus der Zeit gefallen scheinen. In seltsamen Posen hangeln sie Straßenlaternen oder stecken in einem Haufen aus Säcken am Rhein. Sie sind bis zum Hals vergraben in einem Blumenbeet. Kunstvoll eingeklemmt zwischen Alltagsgegenständen. Um einen Laternenmast gewunden wie eine Girlande. Es ist der ins Dasein geworfene Mensch, mit dem die Performances von Angie Hiesl + Roland Kaiser die Zuschauer*innen konfrontieren. Als Team seit 23 Jahren, Angie Hiesl schon seit den 1980er Jahren. Kunst, die sich dem Zufall ausliefert. Kunst im urbanen, manchmal verwaisten, öfter aber sehr belebten Raum. Kunst draußen: in der schicksten Einkaufsmeile, auf den Bahnsteigen des Kölner Hauptbahnhofs, im verwinkelten Rotlichtviertel, in einer besonders hässlichen U-Bahnstation.
»kultur.west« hat das Kölner Performance-Duo an einem regnerischen Tag getroffen. Wo? Natürlich draußen, unter einem Vordach in einem Kölner Hinterhof. Der Himmel ist trübe. Aus einer angrenzenden Vespa-Werkstatt kommen Motorengeräusche, ein Abwasserrohr gluckert laut wie ein Bach.
HIESL: Schön hier.
kultur.west: Erste Assoziation beim Wort »draußen«?
HIESL: Freiraum.
KAISER: Helligkeit. Licht.
kultur.west: Woher kommt die Liebe zum Draußen?
HIESL: Für mich hat das viel mit Streunen zu tun. Ich war als Jugendliche immer draußen, bin viel gereist, getrampt. Ich mag das Unbestimmte, sich treiben zu lassen und auf Dinge zu treffen, die nicht immer kontrollierbar sind.
KAISER: Ich bin im Schwarzwald aufgewachsen und war schon als Sechsjähriger den ganzen Tag unbeaufsichtigt draußen. Ich hätte vermutlich zigmal umkommen können, wenn ich zehn Meter hoch in den Baum kletterte oder meterweit Höhlen grub ohne Absicherung. Diese Lust am Experimentieren in der Natur treibt mich noch heute an.
kultur.west: Bei den Performances gibt es immer den unzuverlässigsten Mitspieler, den man sich vorstellen kann: das Wetter.
KAISER: Unangenehmes Wetter kalkulieren wir manchmal bewusst ein. Bei unserem Projekt »Stillleben« etwa. Da ging es um Gewalt gegen Kinder und Frauen. Die Aufführungen haben wir absichtlich in die kalte Vorweihnachtszeit gelegt.
In der Tat: Was musste man schon frieren, während der Performances von Hiesl + Kaiser. Oder tropfnass werden. Oder in der Sonne brüten und schwitzend über eine staubige Industriebrache stapfen, vorbei an einer halb im Sand versunkenen Telefonzelle, als wäre man ein Besucher aus dem All, der nach der Klimakatastrophe auf den verdorrten, verwaisten Planeten Erde zurückkehrt. Über eigentlich ganz friedliche Settings des Duos kann ein Sturm ziehen und plötzlich sieht alles nach Apokalypse aus. Die Performer*innen harren aus. Trotzen Wind, Regen, Kälte.
kultur.west: Draußen zu sein sensibilisiert das Körperbewusstsein auch beim Betrachter, das Gefühl von Ungeschütztsein. Interessiert Euch das?
HIESL (lacht): Du bist vermutlich ein Indoor-Mensch! Aber die Antwort ist: Ja, wir wollen uns aussetzen.
KAISER: Im Jahr 2000 habe ich als Performer bei unserer Aktion »Kachelhaut« in einer U-Bahnstation in Köln mitgemacht. Dabei lag ich mehrere Minuten in einem ziemlich kalten Wasserbassin und musste wahnsinnig zittern. Für mich war das eine normale Körperreaktion und gar nicht schlimm. Aber die Zuschauer haben sehr gelitten.
HIESL: Oder unsere Performance »FORKS IN THE CITY«. Die dauerte 24 Stunden, also auch nachts während der kalten einsamen Stunden. Da konnte man beobachten, wie sich der körperliche und seelische Zustand der Performer*innen verändert. Das wollten wir untersuchen. Manche von ihnen sind in den frühen Morgenstunden in ihrer Aktion eingeschlafen. Sie saßen zusammengesunken und erschöpft mit geschlossenen Augen da. Das haben Passanten auf dem Weg zur Arbeit gesehen. So etwas irritiert, provoziert manchmal auch.
kultur.west: Gibt es Bodyguards für die Performer*innen?
HIESL: Unbedingt. Aber unsere Helfer tragen keine Security-Hemdchen, sie sind nicht zu erkennen.
KAISER: In »Stillleben« stand ein Performer auf einem öffentlichen Platz und hatte abwechselnd zwei Schilder vor sich, auf denen stand: »Ich bin ein Kinderschänder« und »Ich bin ein Vergewaltiger«. Das hat unglaublich starke Aggressionen ausgelöst.
kultur.west: Wann greifen die Helfer ein?
KAISER: Sobald ein physischer Übergriff stattfindet. Verbale Attacken lassen wir immer zu. Denn der öffentliche Raum ist ein Seismograph für die Befindlichkeiten der Gesellschaft. Man muss erlauben, dass die Leute aussprechen, was sie denken. Das auszuhalten, ist für die Performer*innen die viel größere Belastung als das Physische.
Seit jeher ist die Kunst von Hiesl + Kaiser kritisch, wach, politisch, aber nicht opportunistisch am Zeitgeist orientiert. Schon in ihren Anfängen malträtiert Angie Hiesl erst den eigenen, dann den Körper ihrer Performer*innen. Ähnlich riskant und erbarmungslos wie eine Marina Abramovic, nur interessiert Hiesl + Kaiser eben immer auch der Ort, wo sich dieser Leib befindet. Ihre Aktionen sind Irritationen im Alltag, in die der Passant unversehens hinein stolpert. Man staunt, versinkt in eine Welt der Mythen und Märchen, des Kuriosen und des Horrors. Die Beunruhigung stellt sich langsam ein. Manchmal endet sie im sanften Schock. Der öffentliche Raum, den Hiesl + Kaiser dekorieren, verfremden, stören wollen, – er ist allerdings längst nicht so frei ist, wie die beiden sich das wünschen.
kultur.west: Das freie Draußen verschwindet, der öffentliche Raum wird zunehmend privatisiert – ist das ein Problem für Eure Arbeit?
HIESL: Ein Riesenproblem! Der öffentliche Raum ist so sehr vom Kommerz bestimmt. Wir müssen bei der Nutzung von Plätzen gegen irgendwelche Bier- und Weinfeste konkurrieren. Das ist bundesweit ein großes Thema für Theater im öffentlichen Raum. Unsere Kunst ist durch die Privatisierung immer stärker eingeschränkt.
kultur.west: Ist das Ordnungsamt der natürliche Feind der Site-Specific-Kunst?
HIESL: Eigentlich hat die heutige Generation Beamte viel Verständnis für unsere Arbeit. Aber seit dem Love-Parade-Unglück in Duisburg und den Terroranschlängen sind die Auflagen sehr hart geworden. Brandschutz, Betonblöcke. Zuletzt in Detmold wurde ein Auto als Blockade gegen Durchfahrten quer geparkt, das stand mitten in unserer Sichtachse. Solche Dinge können unsere Arbeit schon sehr beeinträchtigen.
Das »Draußen« als romantischer Ort der Freiheit? Ein Wunsch, keine Wirklichkeit. Es dauert nicht lange, da weist Angie Hiesl in unserem Gespräch auf eine ganz andere Bedeutung des Wortes hin: Draußen – das ist für Hiesl + Kaiser immer auch Metapher für die soziale Exklusion. »Wir lassen Menschen draußen, das beschäftigt mich sehr«, sagt sie und spricht von den Flüchtenden, die im Moment sogar aus dem öffentlichen Diskurs »draußen« gelassen werden: Corona hat sie selbst als Thema verbannt. Nicht selten zählen die Performer*innen von Hiesl + Kaiser zu ausgegrenzten gesellschaftlichen Gruppen, sind Menschen, die von Diskriminierung und Intoleranz erzählen: Transidente, Übergewichtige und in einer frühen Performance: Senior*innen. »x-mal Mensch Stuhl« hieß das Erfolgsstück, für das Hiesl Stühle in etwa sieben Meter Höhe an Häuserwände in der Innenstadt nagelte. Darauf saß dann über Stunden ein älterer Mensch. Dem Himmel schon ein bisschen näher. Weggerückt und fern von den Passant*innen, verletzlich und wahrgenommen wie nie. Die Installation feiert in diesem Jahr mit einem Buch und einer Ausstellung ihr 25-jähriges Jubiläum, denn sie verschwand nie aus dem Repertoire von Angie Hiesl + Roland Kaiser, ist noch immer weltweit gefragt. Demnächst soll sie in Polen gezeigt werden.
kultur.west: Seid Ihr mit Eurer Outdoor-Kunst also Corona-Krisen-Gewinner?
HIESL: Gar nicht. Wir wissen weder, ob die Reise nach Polen stattfinden kann, noch ob unsere Ausstellung, die wir draußen zeigen wollen, mit den Corona-Auflagen vereinbar ist.
KAISER: Dabei ist durch die Coronakrise der alte Mensch wieder sehr ins Bewusstsein gelangt – als Hochrisikogruppe. Das gibt unserem Projekt neue Aktualität.
kultur.west: Was kann Kunst draußen, was Kunst drinnen nicht kann?
KAISER: Wir erreichen ein anderes Publikum. Unsere Interventionen sind in der Regel an Orten, an denen es eine breitgefächerte Öffentlichkeit gibt, wo vom Obdachlosen bis zum Oberarzt alle Bevölkerungsschichten verkehren.
HIESL: Unsere Arbeit draußen beinhaltet auch ein Statement gegen das »Draußen«: Es sind Arbeiten, die niemanden ausschließen. Unsere Kunst ist für alle da, und es ist uns auch nicht wichtig, dass die Menschen unsere Aktionen explizit als Kunst erkennen.
KAISER: Viele sagen, dass sie bei unseren Arbeiten oft gar nicht differenzieren können, was Realität, was Fiktion ist. Das trifft aufeinander und schafft etwas Eigenständiges.
HIESL: Wenn die Wahrnehmung einmal kurz verrückt wird, haben wir geschafft, was wir wollen.
Im Portal »Tanzland NRW« des Kulturkenners ist ein schönes, multimediales Porträt über Angie Hiesl und Roland Kaiser erschienen:
http://story.kulturkenner.de/angie-hiesl-roland-kaiser#452
Im Herbst 2020 wird ein zweisprachiger Fotoband über die Arbeit von Angie Hiesl und Roland Kaiser publiziert (im Verlag Kettler).