Zu Beginn des 17. Jahrhunderts beauftragt Kaiser Rudolf II. seinen Leibarzt Hieronymos Makropulos, ein lebensverlängerndes Elexier zu erfinden. Getestet wird es an dessen Tochter Elina, die sofort in eine schwere Ohnmacht fällt. Die Totgeglaubte erwacht aber wenige Wochen später wieder und geistert seither durch die Geschichte unter wechselden Identitäten und Namen, die allerdings stets die Initialen »E.M.« beibehalten.
Eine jugendliche Sängerin mit 300 Jahren
Die verworrene Komödie von Karel Čapek, die Leoš Janáček als Vorlage seiner Oper diente, spielt in den 1920er Jahren. Elina Makropulos ist mittlerweile über 300 Jahre alt und lebt als erfolgreiche, immer noch jugendliche Opernsängerin unter dem Namen Emilia Marty. Die Geschichte beginnt in der Anwaltskanzlei Kolenatý, wo Marty sich in einen 100 Jahre dauernden Erbschaftsstreit zwischen den Familien Prus und Gregor einschaltet. Nicht ganz uneigennützig: Das Rezept des Zaubertranks »Die Sache Makropulos« wähnt sie im Besitz von Jaroslav Prus. Nach zahlreichen – auch erotischen – Verwicklungen deckt Marty ihre wahre Identität und Lebensgeschichte auf, entscheidet sich jedoch gegen eine weitere Verlängerung ihres Lebens – das Rezept wird vernichtet.
Ständige Geschwindigkeits- und Taktwechsel
Karel Čapek hatte einer Vertonung seines Stückes zunächst ablehnend gegenübergestanden, weil er seine rasante Konversationskomödie für die Oper ungeeignet fand. Leoš Janáček setzte sich jedoch durch und erfand für den Stoff eine eigene Musiktheater-Sprache. In der knapp zweistündigen, durchkomponierten Oper wechselt der musikalische Duktus oft von einem Satz zum nächsten. Janáček deutet den Text in musikalischen Mikroformen aus und springt zwischen Rezitativ, Parlando, Walzer, Liedhaftem und Cantilene hin und her. Verbunden damit sind ständige Geschwindigkeits- und Taktwechsel. Eine enorme Konzentrationsleistung für Dirigent, Orchester und Gesangsensemble. Nicht zuletzt braucht diese Klangsprache Eleganz und eine gewisse Beiläufigkeit, um als Ganzes organisch zusammenzuhalten. Generalmusikdirektor Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen leisten hier mit dem gesamten Ensemble Beachtliches.
Wandfüllende Karteikästen hinauf
1981 inszenierte Dietrich Hilsdorf mit »Eugen Onegin« seine allererste Oper am Musiktheater im Revier. Damals ein Skandal. Zum 60-jährigen Bestehen des Hauses ist er nun zurückgekehrt. Gänzlich unskandalös. Hilsdorf zeigt sich in »Die Sache Makropulos« als Meister des psychologischen Realismus, der es brilliant versteht, die darstellerischen Fähigkeiten seines Ensembles zu erkennen und gezielt für die Erzählung einzusetzen. So wird der erste Akt in der Kanzlei Kolenatý vom überragenden satirischen Talent von Joachim G. Maaß als Anwalt dominiert, immer umwuselt vom überbeflissenen – im wahrsten Wortsinn – buckelnden Vitek (Timothy Oliver), der schon während des Vorspiels die Leitern zu hunderten, wandfüllenden Karteikästen hinauf- und hinunterklettert. Petra Schmidt als geheimnisvolle Marty gibt sich hier noch zurückhaltend zugeknöpft, dagegen wird Martin Homrich als Albert Gregor ständig von nicht beherrschbaren erotischen Attacken getrieben und fällt brutal über Marty her. Auf dem Schreibtisch, auf der Leiter, im Sessel.
Der 83-jährige Mario Brill kehrt auf die Bühne zurück
Als wäre der Bürokratie-Schrein des ersten Aktes nicht schon beeindruckend genug, erfindet Bühnenbildner Dieter Richter für den zweiten Akt, der nach einer Opernvorstellung auf der leeren Bühne spielt, eine denkbar einfache wie eindrucksvolle Lösung. Das gesamte Bühnenbild des ersten Aktes wird umgedreht und in den Bühnenhintergrund verschoben – bei angeschaltetem Saallicht, das auch den Akt über leicht gedimmt leuchtet. Vorne wird die Bühne, die nun zur Hinterbühne geworden ist, mit Flatterband abgesperrt. Marty verwandelt sich in Petra Schmidt (Kostüme: Nicola Reichert) und begegnet hier ihrem ehemaligen, mittlerweile steinalten und leicht senilen Liebhaber Hauk-Schendorf. Der 83-jährige und am Musiktheater im Revier beinahe legendäre Mario Brell singt und spielt ihn. Fast 25 Jahre war der Tenor in Gelsenkirchen engagiert und arbeitete sich vom Operettensänger bis in das Wagnerfach hinein. Mit immer noch fast jugendlicher Stimme und großem, selbstironischem Spielwitz liefert er ein echtes Kabinettstück ab.
Gegen die Macht der Männer
Für den dritten Akt wird dann eine komplette Hotelssuite im feinstem Art Déco seitlich hereingeschoben. Allein die technische Perfektion der Verwandlungen auf offener Bühne beeindruckt. Marty hat sich mit einer Liebesnacht das Dokument mit der »Sache Makropulos« von Prus (Urban Malmberg) erkauft. Sie ist jetzt ganz Grande Dame, die die hereinstürmende Herrengesellschaft mit ihrer Lebensgeschichte im Zaum hält. Sie rechnet das kümmerliche materialistische Leben der Normalsterblichen gegen die Kälte der Unsterblichkeit auf, um schließlich ganz allein zu entscheiden, dass sie auf weitere 300 Jahre lieber verzichtet und durch das Fenster verschwindet. Mit größeren musikalischen Linien zeigt Janáček deutlich, dass die ganze Oper auf dieses Finale hin geschrieben ist. Hilsdorf lässt sich jedoch nicht dazu verleiten, eine metaphysische Apotheose zu inszenieren, sondern lässt die Marty ihr langsames Verschwinden spielerisch mit dem Vorhang des Hotelfensters zelebrieren. Viel wichtiger scheint dem Regisseur hier zu sein, dass die Frau sich nun endlich gegen die Männergesellschaft, die sie zuvor nur als erotisches Objekt, als verehrte Operndiva, als Spielball in ihren eigenen Ränken und Rechtsstreitigkeiten sahen, die Oberhand gewinnt. Das gelingt, weil Petra Schmidt auch nach fast zwei Stunden ständiger Präsenz auf der Bühne hier stimmlich brilliant und kraftvoll den Abend beendet.
Ideal besetzt: die Marty
Bis in die Nebenrollen – Lina Hoffmann als Krista, Khanyiso Gwenxane als Janek Prus, Gerard Farreras als Bühnentechniker, Karla Bytnarová als Requisiteurin und Rina Hirayama als Kammerzofe – ist dieser Abend stimmlich wie darstellerisch überzeugend besetzt. Petra Schmidt allerdings liefert eine Marty ab, die in der Genauigkeit, Stimmschönheit und souveränen Leichtigkeit einer Idealbesetzung gleich kommt. Zudem gelingt es, dass in gut verständlichem Tschechisch gesungen wird.