Die 16-jährige Rita Hellberg, Tochter eines norddeutschen Luftfahrtingenieurs und Flugzeugbauers, ist eine Realistin. »Sie rebelliert nicht, wenn es keinen Sinn hat zu rebellieren«, heißt es einmal in Merle Krögers dokumentarischem Roman über sie. Was eben auch heißt, Rita kennt die Grenzen sehr genau, die ihr Familie und Gesellschaft in den frühen 1960er Jahren im Wirtschaftswunderland BRD setzen. Anders als ihr ein paar Jahre älterer Bruder Kai lehnt sie sich nicht offen gegen die Erwartungen ihres Vaters Friedrich auf. Aber das bedeutet nicht, dass sie keine Träume von einem anderen Leben hätte.
Auch sie will aus den ihr vorgezeichneten Bahnen ausbrechen und ihren eigenen Weg gehen. Doch dazu bekommt sie erst die Gelegenheit, als sie im Dezember 1961 von Hamburg nach Kairo zieht. Ihr Vater ist einer der zahllosen Experten, der »German experts«, die der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser in sein Land geholt hat, damit sie für ihn Raketen und Kampfflugzeuge bauen. Was in dieser Beschreibung vielleicht nach einer typischen Comig-of-Age-Erzählung klingt, ist natürlich viel mehr. Dieser Strang von Merle Krögers Zeitroman ist zwar dessen emotionales Zentrum, aber um ihn herum webt die Schriftstellerin und Filmemacherin ein vielfältiges Geflecht von Geschichten und Stimmen, das sich mehr und mehr zu einem politischen Panorama des Nahost-Konflikts in den 60er Jahren entwickelt.
Die deutschen Experten bauen in der ägyptischen Wüste nicht nur an Flugzeugen und Raketen, die ins All aufsteigen sollen. Sie, die während des Krieges in der NS-Rüstungsindustrie beschäftigt waren, rüsten nun Nasser für einen Vernichtungskrieg gegen Israel auf. Eine an sich schon erschreckende Kontinuität, deren abgründiges Ausmaß Merle Kröger durch kurze dokumentarische Einschübe unterstreicht. In ihnen referiert sie im sachlichen Ton einer Historikerin die (NS-)Biographien von Wissenschaftlern und SS-Offizieren, von KZ-Ärzten und Diplomaten, die ihr mörderischer Antisemitismus eint.
Rita, die eine Stelle als Sekretärin bei einem der von Experten geleiteten Entwicklungsteams in Kairo antritt, gerät zwischen die Fronten der Geheimdienste. Die Geschichte einer Selbstfindung verwandelt sich in einen Polit- und Agententhriller, der die Grenzen und Konventionen dieses Genres konsequent ignoriert. Kröger lässt sich in keiner Weise einengen. Mal wechselt sie von einem Satz zum anderen den Schauplatz der Handlung. Mal übernimmt eine allwissende Erzählerinnenstimme das Wort und schildert Ereignisse, die von den 30ern bis in die 90er Jahre reichen. Es sind Techniken aus Dokumentar- und Essayfilmen, die Kröger für ihren Roman adaptiert und eindrucksvoll in Sprache übersetzt. Überhaupt die Sprache! Auf den ersten Blick wirkt sie simpel, schmucklos. Auf den zweiten offenbart sich in ihrer Klarheit eine Dichte und Tiefe, die einen überwältigen kann. Beinahe protokollhafte Beschreibungen weiten sich plötzlich zu hintergründigen Bildern. »Rita Hellberg schaut von oben auf eine neue Welt. Und diese Welt hat Schluckauf.« Gemeint ist das Ruckeln und Aussetzen der Mechanik, die dafür sorgt, dass sich das Restaurant hoch oben im Cairo Tower fortwährend dreht. Zugleich hat die Welt zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort auch selbst Schluckauf. Ein perfektes Bild für die Wiederkehr der Technokraten, die mehr als 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dort weiter machen, wo die Nazis gescheitert waren.
Merle Kröger, »Die Experten«, Suhrkamp Verlag, 688 Seiten, 20 Euro