Großformatige abstrakte Gemälde, Collagen mit figürlichem Charakter, Skulpturen, Fotografien nahezu aller Genres, Videoarbeiten, Rauminstallationen, Environments, Objet trouvés: Ingeborg Lüschers Werk wie es in der großen Retrospektive im Bochumer Museum unter Tage zu entdecken ist, wirkt auf den ersten Blick sehr disparat. Auf den zweiten auch. Einen Hinweis, wo der verborgene Zusammenhang liegen könnte, gibt der Titel der Schau, die rund 30 Werke von 1968 bis in die Gegenwart versammelt: »Spuren vom Dasein.« Auch Ingeborg Lüscher stellt die großen Fragen unserer Existenz. Die nach dieser lästigen Tatsache unserer Vergänglichkeit zum Beispiel. Oder die nach dem komplexen Spiel aus Licht und Dunkelheit, in dem sich alle Erscheinungen verorten.
Doch oft ist es ja nicht in erster Linie das Werk, das Menschen in ein Museum lockt, sondern eine interessante Künstler*innen-Biographie. Ein kurzer Abriss von Ingeborg Lüschers reichem Leben vermag jedenfalls zu beeindrucken: Die im Tessin lebende gebürtige Sächsin war Teil der legendären documenta 5, danach bis zu dessen Tod mit dem berühmten Ausstellungsmacher Harald Szeemann liiert. Sie stellte auch auf einer weiteren documenta und zwei Biennalen in Venedig aus. Sie ist erst mit Anfang 30 von einer Schauspiel-Karriere auf eine schillernde künstlerische Laufbahn abgebogen und arbeitet heute mit 85 Jahren äußerst agil und mit jugendlicher Offenheit sowohl weiter an neuen Werken als auch an ihrem Nachruhm.
Zu letzterem gehört, dass sie vor einiger Zeit ein Museum suchte, das ihre wichtigsten, oft raumgreifenden Arbeiten in seine Sammlung übernehmen möchte. Einige Häuser in der Schweiz zeigten zwar Interesse, wollten oder konnten aber die großen, raumgreifenden Arbeiten nicht unterbringen. Durch eine gute, langjährige Beziehung zum Bochumer Mäzen, ehemaligen Galeristen und Museumsstifter Alexander von Berswordt fand sie schließlich, dass ihr Nachlass in der Situation Kunst (für Max Imdahl) gut aufgehoben wäre, die an die Sammlungen der Ruhr-Universität Bochum angeschlossen ist. 80 Werke schenkte sie dem Museumsensemble, was man dort zum Anlass nahm, Lüschers Werk in Deutschland zum ersten Mal seit 15 Jahren in seiner vollen Bandbreite zu zeigen.
Kooperation mit dem Kunstmuseum Bochum
Ein weiterer zumindest für das Ruhrgebiet interessanter Superlativ verbindet sich mit der Ausstellung: Um ein besonders raumgreifendes Werk zeigen zu können, kooperiert das zur Situation Kunst gehörende Museum unter Tage erstmals mit dem Kunstmuseum Bochum, das seit diesem Sommer unter der neuen Leitung der jungen Niederländerin Noor Mertens steht. Hier ist ab Anfang Dezember Lüschers »Bernsteinzimmer« zu sehen, das in seinen Maßen Bezug auf das Prunkzimmer nimmt, das unter Friedrich I. um 1700 im Berliner Schloss Charlottenburg entstand.
Das »Bernsteinzimmer« der Künstlerin bildet allerdings nicht die vor allem teure Ausschmückung des verloren gegangenen Zimmers nach, sondern seine Anmutung als generalisierte Form und Lichtwirkung: Es setzt sich aus 9000 Stücken Seife der Marke »Sole« zusammen und stellt nicht mehr bloß eine Rauminstallation, sondern ein Environment für die Besucher*innen dar; eine Umgebung mit einer eigenen visuellen, akustischen und olfaktorischen Wirkung, weil es natürlich einen schwachen Seifengeruch ausströmt.
Ergänzt wird es im Kunstmuseum um ein wichtiges Initialwerk ihrer Künstlerinnenwerdung: 1969 näherte sie sich dem Schweizer Einsiedler und Sonderling Armand Schulthess, der in einem großen Kastanienwald im Tessin lebte und dort eine umfassenden Sammlung des Wissens betrieb, quasi eine Enzyklopädie im Wald. Lüscher notierte Gespräche und fotografierte den Sammler und seine vielfältigen Objekte mit Wissensbrocken, die er auf Blechtäfelchen an Bäume genagelt und gehängt und an Latten montiert hatte, und stellte daraus die »Dokumentation über A.S.« zusammen, die 1972 auf der documenta zu sehen war.
Im Museum unter Tage fällt Lüschers Hang zu ungewöhnlichen Materialien auf, löst Irritationen aus: Gleich am Anfang hängen die »Verstummlungen«, Collagen aus tausenden Zigarettenstummeln, die die Künstlerin bei Freund*innen und Bekannten gesammelt hat und meistens in einem Fensterrahmen zusammenstellt. Von fern können diese Strukturen wie natürliche Erscheinungen wirken – Schattenwürfe, Bienenwaben – ein schöner Anblick. Aus der Nähe kommen dann ein Ekel und ökologisches Bewusstsein ins Spiel. Immerhin belasten die ständig achtlos fortgeworfenen und kaum kompostierbaren Zigarettenfilter die Umwelt – eine Assoziation, die Anfang der 1970er-Jahre, als die Werke entstanden, vielleicht noch nicht die erste war. Damals galt Rauchen als schick, gerade für künstlerisch-kreative Menschen.
Im weiteren Verlauf der Schau stößt man auf Skulpturen aus Busreifen oder angefackeltem Styropor, den wieder raumgreifenden »Hängenden Gärten der Semiramis« aus gelben Polyethylen-Bahnen, einer Steinsammlung, die pseudowissenschaftlich als »werdende Herzen« kategorisiert werden, Kleidungsstücken die sich aus Wäschetrockner-Flusen quasi rematerialisieren. Und immer wieder ist es der Schwefel beziehungsweise die Schwefelblume, das als leuchtendes Gelb, als ihre Metapher für das Spiel mit dem Licht, ihr Werk markiert.
Abstraktes Spiel mit Qualitäten
Trotzdem ist Ingeborg Lüscher nicht in erster Linie Materialforscherin, die ein abstraktes Spiel mit den ihren Stoffen innewohnenden Qualitäten treibt. Wenn man sie kennenlernt, wird gleich klar: Sie lässt sich von ihrem Erleben als Mensch in dieser Welt, ihren Fragen, ihren Gefühlen leiten. Das Gelb des Schwefels hat sie beim Besuch eines Drogerie-Ladens fasziniert, sie kaufte gleich eine ganze Flasche und setzt es nun auf großformatigen Gemälden oder Skulpturen gern als Antagonist zu tief schwarzen Farbstrukturen ein, es korrespondiert zum Beispiel mit dem Gelb, in dem ihre 1998 fotografierten »Augen« leuchten. Diese Fotoserie ist immer in Paaren gehängt: Ein Auge geöffnet, eins geschlossen. Licht und Schatten – keins von beidem ist für sie positiv oder negativ besetzt, das eine bedingt das andere.
Eine pyramidenförmig gehängte Serie kleinformatiger Fotos von 1975 bis 1979, die die Welt aus Kinderperspektive zeigen, hat sie genannt: »Wie ich beginne die Welt zu erleben oder: Ich kenne den Sinn und die Worte, nur die Dinge sind über mir«. Inspiriert dazu hat sie eine Reihe von Hypnosesitzungen, die ihr Aufschluss über frühere Leben bringen sollten: »Ich glaube, in meinem vorherigen Leben war ich ein armes Mädchen, das früh verstorben ist. Vielleicht darf ich deshalb jetzt so ein reiches Leben haben und es voll auskosten.« So kann man die Werke in der Bochumer Schau nicht in erster Linie als Materialerforschung, sondern als Selbsterforschung, als Ergebnis des Auskostens eines reichen Lebens sehen. Das macht Spaß und so erkennt man auch gleich: Hinter der abstrakten Anmutung der Collage »Hyrgin und Rear III« ist auf den zweiten Anblick deutlich ein feuriges liegendes Paar mit feurig roter Liebesenergie zu erkennen – Ingeborg und Harald.
Bis 18. April 2022 im Museum unter Tage und Kunstmuseum Bochum