INTERVIEW: ULRICH DEUTER
K.WEST: Herr Professor Franz, Sie sind einer der ersten gewesen, die auf die kulturgeschichtliche Dimension der Beschneidungsdebatte hingewiesen haben – in einem großen Artikel in der FAZ. Jüngst haben Sie einen Appell an die Regierung und den Bundestag initiiert, in dem Sie (und 700 weitere) eine Wahrung der Kinderrechte fordern. In diesem Appell scheint sich das argumentative Arsenal der Beschneidungs-Kritiker, zu denen Sie zählen, auf medizinische Aspekte zu verengen. Sehe ich das recht?
FRANZ: Nein. Zunächst gilt das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit auch für kleine Jungen. Ebenso das auf Achtung ihrer sexuellen Identität. Niemand käme auf die Idee, Erwachsene mit Zwang zu beschneiden, warum sollten Kinder das erdulden müssen? Aus kulturhistorischer Sicht geht es bei der Beschneidung sehr stark um patriarchalische Triebkontrolle. Medizinische Aspekte spielen natürlich eine Rolle, es handelt sich schließlich um eine irreversible, risikobehaftete Körperverletzung der für die kindliche Entwicklung hochbedeutsamen sexuellen Sphäre. Es gibt keinen medizinischen Grund dafür, einem gesunden Jungen die gesunde Vorhaut abzuschneiden. Deshalb weigern sich viele Ärzte, dieses Ritual durchzuführen. Das ist auch angesichts wachsender Haftungsrisiken durch Schadensersatzprozesse sinnvoll.
K.WEST: Wie hoch sind denn diese Risiken der Zirkumzision? Gibt es Studien, die hart sind?
FRANZ: Es gibt Todesfälle durch Narkosezwischenfälle oder Infektionen. In einer Münchner Klinik liegt ein bei der Beschneidung ins Koma gefallener kleiner Junge. Die Kinder erleiden Schmerzen, andere Risiken sind Verstümmelung oder Vernarbungen des Gliedes, die Erektionen erschweren oder schmerzhaft machen können. Eine neue dänische Studie an über 5.000 Personen zeigt, dass Beschnittene im Erwachsenenalter fast dreimal häufiger über Sensibilitäts- und Orgasmusstörungen berichten als Unbeschnittene. Durch die fehlende, hoch empfindsame Vorhaut kommt es zu Verhornung und Sensibilitätsverlust der ungeschützten Eichel. Dazu kommen mögliche psychische Langzeitfolgen bei Beschneidung in der späteren Kindheit.
K.WEST: Sie haben als Analytiker selbst solche Fälle erlebt?
FRANZ: Viele Ärzte kennen Patienten, die noch als Erwachsene seelisch und körperlich an Beschneidungsfolgen leiden; ich habe Fälle in einer Publikation beschrieben. Ein Beispiel: Ein Mittvierziger schildert, wie er mit sechs Jahren mit Gewalt beschnitten wurde. Er bekommt Todesangst, entwindet sich den Männern, läuft blutend davon, man holt ihn ein, hält ihn fest und trennt ihm auch den Rest der Vorhaut ab. Das erzählt er mit panisch geweiteten Augen und Schweiß auf der Stirn, mit stockender Stimme, so als ob er dissoziativ in diesem Trauma nach wie vor befangen ist. Dieses unverarbeitete Kastrationstrauma bewirkt bis heute bei ihm Angstzustände und Beziehungsstörungen. Zum Schrecken der eigenen Beschneidung kommt die fortgesetzte Gewaltzeugenschaft. Was geht in einem Kind vor, das diesen Ritus nicht nur selbst erleidet, sondern immer wieder beobachtet? Vielleicht identifiziert es sich mit dem Aggressor, um die Retraumatisierung durch die Kastrationsandrohung (die eine Beschneidung in der Fantasie eines Knaben darstellt) zu bewältigen. Es erlebt elterlich tolerierte genitale Gewaltzufügung und erleidet ungünstigenfalls sogar einen Vertrauensbruch in der Beziehung zu den Eltern.
K.WEST: Den etwa fünf Prozent Problemfällen bei der Beschneidung steht eine absolute Zahl gegenüber, die nach Auffassung von Rabbinern oder Imamen die Harmlosigkeit der Sache beweist, nämlich die von Millionen beschnittener Männer.
FRANZ: Opfer müssen erbracht werden? Fünf Prozent – ist das nichts, bloß weil es sich um kleine Jungen handelt? Die kollektive Empathieverweigerung, die hinter diesem Kleinreden steckt, ist aus ärztlicher Sicht unerträglich. Kein Kind kommt mit dem Wunsch auf die Welt, beschnitten zu werden. Männer, die aufgrund einer Beschneidung beschädigt oder mit ihrer Sexualität unglücklich geworden sind, schämen sich oft, sich zu äußern. Dazu müssen sie sich auch gegen eine mächtige Tradition und die eigenen Eltern wenden. Deshalb hören wir davon öffentlich noch so wenig.
K.WEST: Gibt es nach Ihrer Kenntnis Untersuchungen, wie viele liberale Juden beschnitten sind und wie viele nicht?
FRANZ: Nein. Viele aus Russland emigrierte Juden sind unbeschnitten. Im Reformjudentum wird der unblutige Brit Schalom praktiziert und in Israel selbst gibt es die Bewegung »Intakter Sohn«, die sich gegen die Beschneidung von Jungen richtet. Der streng orthodoxe Ritus ist demgegenüber sehr radikal. Der Beschneider entfernt dort nicht nur die Vorhaut – sie wird abgeklemmt, abgeschnitten, nicht vernäht, alles ohne Narkose –, sondern er nimmt das Glied des Kindes in den Mund und saugt das Blut ab. Dabei ist es schon zu tödlichen Herpesinfektionen von Neugeborenen gekommen. Was sollen Kinder von Erwachsenen denken, wenn sie solche Dinge wahrnehmen?
K.WEST: Ihnen schallt ein Aber entgegen, das nicht medizinischer Art ist. Die Befürworter der Beschneidung wollen einer rigiden säkularen Sichtweise Halt gebieten, gewissermaßen im Sinne der »Dialektik der Aufklärung«, deren Autoren Horkheimer und Adorno argumentierten, Aufklärung werde totalitär, sobald sie nichts »draußen« lassen wolle, der Prozess für sie von vornherein entschieden sei. »Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils« – können Sie mit diesem Diktum in dieser Debatte etwas anfangen?
FRANZ: Es geht nicht um rigide Pauschalablehnung von Religiosität, sondern einfach um eine klare Positionierung zugunsten des Kindes. Säkularität und Toleranz sind Geschwisterkinder der Aufklärung. Beschneidungskritiker sollten daher auch verstehen, dass es manchen Moslems und besonders Juden Angst macht, auf die Beschneidung als Überlebenszeichen zu verzichten, weil ihre gruppale Identität gerade auch angesichts der Schoa intensiv damit verkoppelt ist. Es geht darum, Nachdenklichkeit zu säen, Dialogbereitschaft einem säkularen Horizont gegenüber.
K.WEST: Einmal eine Zirkumzision nach medizinischen Standards zugrundegelegt: Kann das ›Wohl des Kindes‹ nicht auch die Aufnahme in eine Religion als eine Welt der Sinnhaftigkeit sein? Und das Wesentliche aller Religionen ist nicht Dogma und Idee, sondern Kultus in der Gemeinschaft, wenn man dem Religionshistoriker Ernst Troeltsch folgt.
FRANZ: Der Diskurs wird aber oft dogmatisch geführt. Auch medizinische Standards können Komplikationen nicht völlig verhindern. Wir leben in einem mühsam errungenen säkularen Rechtsstaat. Gewalt gegenüber Kindern auszuüben ist bei uns verboten. Das Aufwachsen in einer sinnstiftend erlebten Gemeinschaft hängt in erster Linie von der Empathie und Identifikationsbereitschaft der Eltern mit ihren Kindern ab. Eltern, die ihren Kindern die Beschneidung ersparen, weil sie sich empathisch mit den Schmerzen und der Angst ihrer Kinder identifizieren, handeln nicht unsinnig. Man kann sogar unbeschnitten Jude oder Moslem sein. Der Gruppendruck ist sicher groß, dennoch ist es auch eine Frage der Haltung. Ein staatliches Statement: Alle Kinder sind vor genitalen Verletzungen zu schützen, bis sie selbst entscheiden können, hätte sicher Signalwirkung.
K.WEST: Kann es nicht für einen Jungen trotz der Schmerzen eine Quelle des Stolzes und der Zugehörigkeit sein, von Vorteil für seine Entwicklung, wenn er die Prozedur geschafft hat? Zumal wenn er das Ganze in einer warmen, liebevollen Umgebung erlebt?
FRANZ: Das sind Post-hoc-Rationalisierungen, es sind humanere Reifeprüfungen denkbar. Die Beschneidung ist ein riskanter traumatischer Akt, auch wenn er gemeinschaftlich durchgeführt wird. Es nützt auch nichts, wenn Erwachsene aus eigenem Interesse auf einem Fest die Sache schöner darstellen, als sie für das Kind letztlich ist. In den Augen vieler Jungen sieht man Angst. Fragt man Kinder, ob sie die Beschneidung möchten, sagen sie zwar oft ja, aber aus Loyalität den selber traditionsbefangenen Eltern gegenüber. Kinder spüren genau, wenn die Eltern an ihre Grenzen kommen. Ist die Feier vorbei, ist der Junge nicht mehr fröhlich, wenn er weiter blutet oder sogar eine Nachoperation ansteht.
K.WEST: Die Summe Ihrer Argumentation ist also: Es gibt keinen Wert sozialer, mentaler oder psychologischer Art, wie er das Aufwachsen im Rahmen eines sinnvollen Weltbildes sein kann, der es rechtfertigen könnte, einen Teil des Körpers des Kindes abzutrennen?
FRANZ: Die Würde des Menschen ist unantastbar, soll das nicht auch für islamische und jüdische Jungen gelten? Es geht um Kindesschutz angesichts medizinisch nicht nötiger Körperverletzung und erheblicher Risiken. Die genitale Zone ist lebenslang von essenzieller Bedeutung für das Identitätserleben. Im Sinne der Religionsfreiheit bedeutet Verzicht auf Frühbeschneidung auch, dem Kind die Freiheit zu ermöglichen, sich selber für seine Religion inklusive der anatomischen Markierung zu entscheiden, wenn es dafür reif ist. Das kann es nach der Frühbeschneidung nicht mehr.
K.WEST: Wie wünschen Sie sich den Fortgang der Debatte?
FRANZ: Zu befürchten und politisch wohl angestrebt ist eine schnelle Beendigung dieser längst überfälligen Debatte vielleicht mittels einer gesetzlichen Regelung, die die Beschneidung unter bestimmten Umständen straffrei stellt. Dagegen wird dann jemand den Klageweg beschreiten. Wünschenswert wäre, dass sich unser Verfassungsgericht dieser Sache annimmt, wobei dann hoffentlich die Belange aller Beteiligten – auch die der Kinder – berücksichtigt werden, um den Rechtsfrieden wieder herzustellen. Was ich mir wünsche, wäre ein Moratorium von einigen Jahren, damit wir eine intensive, faktenorientiert und breit geführte Diskussion bekommen. Denn hier – das sage ich als Psychoanalytiker – sind sehr starke Ängste im Spiel: Eine der stärksten Ängste, die Männer empfinden können, ist die Kastrationsangst. Deshalb gibt es ganz starke Reflexe, nicht genau hinzuschauen, was Jungen da angetan wird. Vielleicht lässt sich ja die symbolische Beschneidung erreichen, bis der Betroffene selbst über die reale entscheiden kann. Die göttlichen Forderungen nach Opfern haben sich über die Jahrtausende ja auch gemäßigt.
Matthias Franz, 57, ist Professor und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker an der Universität Düsseldorf. 2010 erschien »Männliche Genitalbeschneidung und Kindesopfer. Psychohistorische Aspekte eines archaischen Genitaltraumas«; in: Borkenhagen/Brähler: Intimmodifikationen. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Ende September richtet Franz in Düsseldorf den (wissenschaftlichen) »Männerkongress 2012« aus: www.maennerkongress2012.de. Ein Video einer medizinischen Beschneidung findet sich hier: www.samkuninmd.com/docinfo/circvid2.php