// Und es gibt ihn doch. Einige Male schon hatte er das Interview platzen lassen, mal war es ihm zu warm, mal fühlte er sich unwohl, mal wollte er nach dem Konzert nach Hause fahren und war am nächsten Morgen spurlos verschwunden. Ohnehin ist Arcadi Volodos morgens kaum ansprechbar. Dann schläft er, meistens. Volodos ist ein Nachtmensch. Er liebt – manchmal – die Einsamkeit und – grundsätzlich – die Stille. //
K.WEST: Müsste sich der Erfolg von Konzerten nicht eher am Schweigen messen als an den Bravi-Rufen?
VOLODOS: Im Konzertsaal ist für mich das Wichtigste, wie die Menschen zuhören, ob sie Ruhe halten und Pausen aushalten können. In Großstädten ist das Publikum oft sehr leidenschaftlich, aber es hört nicht gut zu. Ich bemerke das an den Geräuschen im Saal. Magie entsteht nur dann, wenn auch Stille herrscht.
K.WEST: Sie lieben die Magie der Nacht, sind Sie gar der letzte Romantiker?
VOLODOS: Konzerte sind sehr emotionale Ereignisse. Danach brauche ich meine Ruhe, muss mich regenerieren. Ich zähle nicht zu denen, die nach ihren Auftritten das große Feiern anfangen. Ich kapsle mich lieber ab, lese ein Buch, mache einfach nichts, oder, ja, ich fange an zu üben.
Spricht so jemand, der mehrfach zum Erben von Horowitz und der Virtuosenkultur des 19. Jahrhunderts ausgerufen wurde? Volodos ist kein großer Redner. Ein Gespräch mit einem fremden Gegenüber verläuft meist eher einsilbig. Journalisten stehen bei ihm ohnehin nicht besonders hoch im Kurs. Kritiken liest er nie.
Arcadi Volodos, 1972 in St. Petersburg geboren und ausgebildet in Moskau, Paris und Sofia, ist ein Unikum, einer, der sich von keinem reinreden und sich nicht vereinnahmen lässt. Weder von seinem Agenten noch von seiner Schallplattenfirma. Auch nicht vom Publikum. Wenn er die Bühne betritt, lässt sich kaum erahnen, ob er sich gerade wohl fühlt oder am liebsten wieder kehrt machen würde. Behäbig sein Gang, marmorstarr seine Verbeugung. Nur selten huscht vor der ersten Zugabe ein Lächeln über seine Lippen. Kennt dieser Mann überhaupt den musikalischen Lustfaktor?
VOLODOS: Grundsätzlich gibt es in diesem Beruf viele Pflichten. Aber danach funktioniere ich nicht. Ich arbeite am Klavier nur, wenn ich dazu Lust habe. Wer beim Klavierspiel aber nur die Lust der Arbeit in sich spürt, nicht aber die Lust am Spiel, wird niemals ein gutes Ergebnis erzielen.
K.WEST: Geht das auch ein bisschen konkreter?
VOLODOS: Während meiner Studienzeit musste ich unzählige Etüden spielen. Das war Pflicht, und mir ging es ziemlich schlecht, entsprechend miserabel waren meine Noten. Diese Stücke interessierten mich einfach nicht. Zu jener Zeit entdeckte ich dann die Fünfte Sonate von Skriabin. Das war eine neue Welt. Ich glaube, dass eigentlich Pianistische, die wahre Art, professionell zu lernen, beginnt mit Liebe – und mit den großen Werken des Repertoires.
K.WEST: Gilt dieses »So funktioniere ich nicht« auch für Ihr konsequentes Nein zu Wettbewerben?
VOLODOS: Dienst nach Vorschrift ist nicht mein Ding. Bei solchen Wettkämpfen muss man um zehn Uhr morgens an einem bestimmten Ort ein bestimmtes Programm abliefern. Oft einen Satz von Mozart – nicht einmal eine ganze Sonate – dazu Präludium und Fuge von Bach, eine Etüde. Für mich unvorstellbar. Das habe ich nie gekonnt.
K.WEST: Die Bedingungen sind aber für alle gleich.
VOLODOS: Genau das ist es ja. Künstler lassen sich nicht nach Raster vergleichen, jeder ist individuell.
K.WEST: Eine Jury ist dazu da, diese Individualität festzustellen und zu bewerten.
VOLODOS: Jury? Die einzige Jury, die für mich Glaubwürdigkeit besitzt, ist das Publikum. Wenn 2000 Menschen in einem Saal sitzen und gut finden, was jemand da vorn abliefert, hat das sicher einen höheren Stellenwert, als wenn vier oder fünf Fachleute nach einem Punktesystem Bewertungen vornehmen. Das ist in meinen Augen nicht repräsentativ.
Volodos ist kein Immer-gut-Gelaunt wie sein chinesischer Kollege Lang Lang, kein Smarty wie Martin Stadtfeld. Eher Typ Teddy, leicht knurrig. Gern würde man ihn einmal dabei ertappen, wie er herzhaft über sich selbst lacht. Wie bei Horowitz. Dessen »Carmen-Variationen«, vom berühmten Vorgänger nie in Notenform, sondern nur auf Schallplatte konserviert, hat Volodos rekonstruiert, mit Ohren und Händen. Doch war ihm die Version nicht komplex genug, einige technisch hanebüchene Finessen hat er zusätzlich gestreut. Prädikat unspielbar! Doch Volodos wuselt mit einer Mühelosigkeit und manuellen Selbstverständlichkeit durch das Noten-Dickicht, dass es Laien wie Profis den Atem verschlägt.
K.WEST: Was stört Sie daran, als Virtuose bezeichnet zu werden?
VOLODOS: Die Leute glauben, Virtuosität sei ein physisches Phänomen. Für mich ist Virtuosität viel komplexer. Da sind zuerst die Farben. Bei einem Virtuosen fragt man nicht, ob er viele Noten spielen kann, sondern wie er sie spielt. Das ist keine Frage von Geschwindigkeit – dafür könnten wir auch eine Maschine erfinden, die sogar in doppeltem Tempo spielt. Ein Virtuose vermittelt Musik mit der größtmöglichen Einfachheit, so dass alle technischen Schwierigkeiten in den Hintergrund treten. Ein Virtuose holt aus schlichten Stücken alle möglichen Klangabstufungen heraus, lässt Obertöne singen, kann mit dem Pedal richtig umgehen.
K.WEST: Der Begriff ist zum Klischee verkommen. Gibt es Künstler, die ihrer Vorstellung von Virtuose nahe kommen?
VOLODOS: Liszt. Für mich das wahre Beispiel eines Virtuosen, weil er ein
Poet war. Man hat sich nicht gefragt: Wie hat er das bloß angestellt, diese Kaskaden von Oktaven? Man hat sich nicht gefragt, ob das schwer ist. Das Publikum war ergriffen und hat seine Musik als etwas Grandioses, Monumentales wahrgenommen.
K.WEST: Daher auch ihre Liebe für Transkriptionen?
VOLODOS: Eine Transkription ist mehr als nur Übertragung. Sie erlaubt Variation und Schöpfung, sie schafft etwas Neues. Es geht nicht allein darum, dass eine Partitur adäquat auf das Klavier übertragen wird, sondern dass Stücke dadurch einen völlig neuen Sinn bekommen: Wechsel in Harmonie, Stil, Kontrapunkt. So entstehen zwei verschiedene Welten, die nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Lassen Sie mich Ferruccio Busoni zitieren: »Jede Interpretation eines Werkes ist zugleich eine Transkription.«
Obwohl Volodos seit nunmehr zwölf Jahren mit Sony einen festen Labelpartner hat, wurden in dieser Zeit gerade einmal sechs Produktionen veröffentlicht, darunter mehrere Live-Mitschnitte. Volodos ist Purist. Als er sein letztes Album mit Werken von Liszt aufnahm, gestand Friedemann Engelbrecht, Leiter des Berliner Teldex-Studios, dass Volodos drei Aufnahmetage für jeweils zwanzig Minuten Programm veranschlagt hatte: »Eigentlich sagt man nach fünf, sechs Durchläufen: das ist super. Doch dann spielte er noch einmal zehn weitere Fassungen – alle auf extrem hohem Niveau«.
K.WEST: Inwieweit wandelt sich Ihre Auffassung von einem bestimmten Stück, wenn Sie es oft hintereinander spielen?
VOLODOS: Nicht grundsätzlich. Es sind Nuancen. Um einen Komponisten verstehen zu wollen, muss man in der Lage sein, in seinem Stil zu improvisieren. Für mich bedeutet Improvisation: die Mundart eines Komponisten zu sprechen, seine Prinzipien zu verstehen, seine Harmonien zu kennen.
K.WEST: Das freie Spiel als Schlüssel zum konkreten Werk?
VOLODOS: Es ist wie bei einer fremden Sprache: Wenn Ihnen jemand ein chinesisches Gedicht vorträgt, werden Sie außer ein paar einzelnen Brocken nichts verstehen. Selbst wenn man diesen Text immer und immer wiederholte, würden Sie kaum mehr davon verstehen. Es macht eben einen Unterschied, eine Sprache richtig zu sprechen. Das ist in der Musik nicht anders.
Konzerte mit Arcadi Volodos: 6. März 2009 in der Düsseldorfer Tonhalle mit Skrjabin/Ravel/Schumann/Liszt und 21. März in der Philharmonie Essen, begleitet von Lorin Maazel und dem Sinfonie Orchester Valencia mit Mussorgski, Rachmaninow, de Falla und Ravel.