// Alles, was dem Vorankommen dient, ist willkommen. Jetzt aber mit friedlichen Mitteln. Der Staat kommt in Fahrt, die Wirtschaft produziert wie am Schnürchen. Auch den Käfer. Das Mus-terbeispiel von Demokratie, Solidität und Wohlstand für jedermann ist fast immer dabei. Anfangs noch mit geteiltem Rück-, dem so genannten »Bretzelfenster«, lässt er bald volle Sicht zu. Mal fährt der bucklige Volkswagen aus Wolfsburg der Ruine des Reichstages davon, vor der Bauzäune und spärlicher Rasen das künftige Niemandsland ahnen lassen. Er zockelt einer schwarzen Mercedes-Limousine hinterher, steuert auf einen Sektorenübergang zu, macht Picknick mit einer Familie im Eifel-Grün, dient mit breiter Flanke einem in der Constanze lesenden Fräulein als Rückenstütze oder parkt am Rand einer mit Kopfstein gepflasterten Straße, auf der ein paar Bengel in Lederhosen Fußball spielen, als habe von der Einstellung Sönke Wortmanns »Wunder von Bern« profitiert. 1955 muss man für den VW Standard 3.750 Mark zahlen – für einen Porsche Typ 356 sind 18.000 Mark hinzublättern. Die harte Währung hat ihren Preis.
»Ist es eine neue Gründerzeit?, fragt Wolfgang Koeppen in seinem 1953 erschienenen Bonn-Roman »Das Treibhaus«, verkostet »ihren Geschmack, ihre Komplexe, ihre Tabus« und sieht in den Wachstumsjahren des Wirtschaftswunders »eine begründet grundlose Zeit«. Die Adenauer-Ära bis zum Epochenbruch 1967 mit dem Tod des Alten von Rhöndorf hat der Fotograf Josef Heinrich (Jupp) Darchinger in einem 360-Grad-Rundumblick erfasst. Das ganze Land im Bild: seine Lebensformen, Sitten und Gebräuche, Aufbruch und Betriebsamkeit, Arbeitsalltag, Feierabend und Zeitvertreib, neues Lernen und alte Gewohnheiten, die kleinen Leute und die großen Männer, die Spaltung im Osten und die West-Integration, seine Symbole, Kontinuitäten und Methoden des Vergessens, seine Leistungslust, die Konstruktion privaten Glücks und der Apparat der politischen Extra-Klasse, die – ge-mäß einem Wahlkampfmotto der Kanzler-CDU – möglichst »keine Experimente« riskiert.
Darchingers Auswahl formuliert Antithesen über das Deutschland von Heinrich Böll und Rudi Schuricke, der Heimatfilme und der Heimkehrer, des Mangels und des Überflusses. Ein junger blonder Mann bekommt 1956 eine Beinpro- these angepasst, er kann höchstens Mitte Zwanzig sein, war also bei Kriegsende einer jener Halbwüchsigen, die Bernhard Wickis »Brücke« verteidigten und das letzte Aufgebot stellten. Eine Mutter packt ein Care-Paket aus, eine zweite wäscht ihr Kind in einer Zinkbadewanne auf einem Küchenhocker. Im Kontrastprogramm erziehen sich fröhliche Frauen zu gut frisierten und geschminkten Gesellschaftsdamen der Bonner Republik, promenieren, gehen ins Kino, richten die gute Stube ein und testen Komfort und Konsum.
Auf der einen Seite noch Trümmer und Baracken, Flüchtlingslager und Behelfsheime, über Gräbern weht der Wind und hängt ein Stahlhelm. Auf der anderen Seite macht es Neckermann schon möglich, dass die Welt bunt und käuflich ist und dem gemütlichen Beisammensein die entsprechenden Requisiten bietet. Geschmack wird zum Gegenteil von Stil. Bungalows und Wohnsiedlungen schießen aus dem Boden, das Frankfurter Kreuz betoniert die Landschaft, Bundesgar- tenschauen ersetzen eine Kulturrevolution, Reisebüros locken mit Ferien in Spanien, die Fluggesellschaft Condor wird bald die Touristen-Bom- ber nach Mallorca starten, während jeder Gedanke an die Legion Condor längst verflogen ist.
Der Foto-Journalist Darchinger, 1925 geboren, Bauernsohn aus Bonn-Endenich, ist Auge und Chronist der frühen BRD. Seine Aufnahmen bilden den offiziellen Charakter des in die Selbstverantwortung entlassenen Staates ab und dokumentieren die psychosoziale Verfassung seiner Bürger. Aus eineinhalb Millionen Fotografien, die er dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung übergeben hat, hat sein Sohn Frank für den Taschen Verlag diesen Band herausgegeben, kommentiert von dem Kurator Klaus Honnef. Geordnet in drei Kapitel (Familienleben, Wirtschaft, Politik), versehen mit Bildtexten, die eine Fülle an Information bieten, und mit einer Chronik 1945 bis 1990 im Anhang, ersetzt dieses visuelle Gedächtnis manch ein Geschichtsbuch. »Oral History« übersetzt ins Me- dium Fotografie. // AWI
Josef Heinrich Darchinger, Wirtschaftswunder. Deutschland nach dem Krieg 1952–1967, Herausgeber Frank Darchinger, Taschen, Köln, 288 S., 29,99 Euro.