TEXT: SASCHA WESTPHAL
Vor zwei Jahren hat Herbert Fritsch mit seiner Oberhausener »Nora« Ibsens Ehe- und Emanzipationsstück jeglichen Realismus ausgetrieben. Die Männer um die im goldenen Käfig gefangene Frau waren Lemuren und Zombies, absurde, aber doch auch gefährliche Schreckgestalten aus dem Panoptikum bürgerlicher Neurosen. In Wuppertal nimmt Tilo Nest scheinbar die Tradition klassischer Ibsen-Inszenierungen auf. Für den ersten Akt hat er das Foyer des Schauspielhauses zur Bühne gemacht. Mit dem großzügigen Innenhof und dem japanischen Garten, den imposanten Gängen und langen Glaswänden wirkt es nun wie ein Haus des amerikanischen Architekten John Lautner. Nora (Juliane Pempelfort) wird tänzelnd eins mit dem Raum. Torvald (Hanno Friedrich) unterstreicht mit jedem Gang seinen Machtanspruch. Lutz Wessels vorsichtig schleichende Bewegungen lassen den Krogstad selbst im Moment der Erpressung noch schwach und verloren wirken. Und die taxierenden, von Neid und Gier erfüllten Blicke Julia Wolffs verraten die wahren Motive der Frau Linde.
Das gläserne Foyer wird zum Mikroskop, unter dem Ibsens Figuren durchsichtig scheinen. Am Ende des ersten Akts, kurz bevor Inszenierung und Zuschauer in die eigentliche Spielstätte wechseln, sind Ibsens Groß- und Kleinbürger dann verschwunden. Was bleibt, ist der Funktionalität und Eleganz verbindende Raum, in dem nichts mehr die Leere unter dem Luxus und die Lügen hinter dem schönen Schein verbirgt. Vier Scheinwerfer strahlen grell eine kleine schräge Plattform (Bühne: Bernhard Siegl) an, auf der sich Nora und die anderen versammeln. Hier lässt sich nichts verschleiern. Die Masken der Moral sind gefallen und mit ihnen auch die des psychologisch-realistischen Theaters, das zu Anfang großartig wiederauferstand. Ibsens Emanzipations-Fantasie erweist sich wie schon bei Fritsch als Schreckensvision. Tilo Nest stößt auf der abstrakten Bühne ins maximalkaputte Innerste der bürgerlichen Gesellschaft vor und enthüllt den Alptraum aus Egoismus und Machtgier.