Prinzip
Zufall – für John Cage eine Urformel. Die Kunst als Schaltstelle
oder als Tauschware, auch im Sinn eines Multiple-Choice-Verfahrens.
»Europeras«, die fünfteilige Werkserie, deren ersten und zweiten
Teile 1987 in Frankfurt 1987 uraufgeführt wurden, stöbert im Fundus
der Gattung Oper und destilliert deren klassisches Repertoire. Man
könnte Cage einen Alchemisten nennen. Eine unendliche Melodie hebt
an und ruft in den Echoraum der Hochkultur. Abfolge und Auftritte
unterliegen keiner festen Ordnung. Eine demokratische, dezentrale
Auflösung – Cage würde vielleicht von Erlösung gesprochen haben.
Das chinesische Orakel I Ging, das dynamische Prinzip vertretend, ist
Cages Grundgesetz. An den Wuppertaler Bühnen betreibt jetzt bei
dieser Rarität Daniel Wetzel die Kunst der Montage. Zeigen, wie
etwas funktioniert, Mechanismen offenlegen: das ist angewandte
Methode von Rimini Protokoll und den postdramatischen Performances
und Recherchen des Kollektivs. Eine Rechnung mit Variablen, bei der
die Ziffer 64 das Raster der Aufführung bildet. Gestaltete Anarchie.
Ansingen gegen die Vergeblichkeit
Am
Modell eines Guckkastentheaters würfelt eine Dame in Schwarz-Rot
(Lucia Lucas), die man für Verdis Zigeunerin aus »La Forza del
Destino« oder Bizets Carmen halten möchte. Ob sie Schicksal spielt?
Wetzels Team entscheidet sich bei seiner Durchführung, entlang der
europäischen Landkarte, für eine soziale Geografie von St.
Petersburg und Riga bis Istanbul, Valencia und London, um wie auf dem
Schachbrett mit 64 Kästchen die musikalischen
»Ermittlungs-Operationen zu organisieren«. Live und per
Videoprojektion. Eine Bühnenwand voller Monitore collagiert die Alte
Welt. Schriften mit gefühligen Regie-Anweisungen erzählen in der
Summe eine absurde Handlung. Einspieler mit Sangeskünstlern an
diversen Orten des Kontinents wechseln mit Stadtansichten und Leuten,
die ihren Geschäften nachgehen, sowie mit historischen Gemälden,
Fotografien und Landkarten. Jeder inbrünstige Arien-Vortrag ist ein
Ansingen gegen die Vergeblichkeit. Das Kraftwerk Oper konzentriert
und verschwendet seine Energien. In diesem Teil sind die Interpreten
in den Clips Sängerexperten des Alltags und gerade darum ganz bei
sich. Hier findet das Ästhetische und Rhetorische der Oper aus Wort,
Klang, Bild zur komplexen Gesamtheit. Das Auge ist ruhelos, der Kopf
hat gut zu tun, die Lust wird nicht müd’.
Danach
folgen anderthalb Stunden Parcours, Potpourri, Panoptikum. Emotion
und Passion zeigen sich als rührend leere Pathosformeln. Kulissen
werden aufgefahren. Das Kostüm macht die Figur. Die Maske wird
demaskiert, die Illusion desillusioniert. Die Statisterie revoltiert
verhalten. Das Ensemble hält als Schild-Bürger betrübliche Parolen
über die Wertegemeinschaft EU und die Misere des Bühnenangehörigen
hoch und ist vor Kalauern nicht bange. Als Intervention, Manifest und
Abgesang auf Europas Zukunft bleibt es Zitat. Als ironisch
selbstreferentielle Feier der Oper erschöpft es sich.
Materialermüdung tritt ein.
1.
März und 6. April 2019