TEXT: ANDREAS WILINK
Hat sich da eigentlich viel geändert im Laufe eines Jahrhunderts? Wer eine Kamera sieht, bleibt stehen und schaut intensiv in ihr starrendes Auge, tut vielleicht desinteressiert, aber bleibt doch meistens auf dem Quivive. Da-mals, als die Bilder laufen lernten, staunte der Mensch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ein bisschen mehr, war wohl auch von der tief wurzelnden Regung berührt, dass sich mit dem Aufnahme-Vorgang Verbotenes vollzog, etwas wie Seelenraub und Subjektverlust stattfinden könne. Heutzutage ist der medial versierte Mensch zwar gelassen und kameraerfahren, aber kollektiv begierig, Objekt zu sein.
Die Passanten, die 1904 durch Saarbrücken flanieren, reagieren wie gebannt und tun nicht mal so, als ob sie die Fixierung der eigenen Person ignorieren würden. Straßenszenen, Alltags-Notizen, Eindrücke und Ereignisse, Aufzeichnungen von Leuten und Orten sind der erste Sinn und Zweck des Films. Die dokumentarische Linie markieren die französischen Gebrüder Lumière oder die Brüder Skladanovsky in Berlin. Bald schon tritt die fiktive Spielhandlung neben die Abschilderung der Wirklichkeit, die sich gern auch an exotischen Schauplätzen umtat, eine Nilreise unternahm, über den Markt von Tanger stöberte oder den Kontinent des menschlichen Organismus per Röntgenblick erforschte.
Die Illusionsmaschine Kino, einmal angeworfen, war nicht mehr zu stoppen. Erstaunlich, wie sehr die Filme aus den ersten beiden Jahr-zehnten schon die Wunderkammern öffnen und das künftige Repertoire enthalten. Sie erfinden Genres, begründen Gesten, entwickeln die filmische Grammatik, entwerfen Methoden und Muster: technisch experimentell, formal und inhaltlich.
Die 56. Kurzfilmtage Oberhausen errichten ein ambulantes musée imaginaire. Aus Filminstituten und Archiven weltweit zusammengetragen, breitet die mit über 100 Arbeiten bislang umfangreichste Retrospektive – vorzüglich ku-ratiert von den Experten Mariann Lewinsky und Eric de Kuyper – Vielfalt und Originalität dieser Pionierstücke von einer bis zu 14 Minuten Dauer aus.
Diese anarchische Testphase kannte noch keine Zulassungsbeschränkungen und keine freiwillige Selbstkontrolle. Es entstand ein gemeinsamer öffentlicher Ort für alle Altersgruppen und Klassen und frei von Zensur. Übrigens, »die erste Periode der Filmgeschichte ist eindeutig die Geschichte europäischer Leistungen« (James Monaco), nicht amerikanischer, trotz Edison / Porter und bei allem Respekt für den legendären Regisseur D.W. Griffith.
Das Inszenieren theatraler Handlung wurde zur französischen Spezialität, besonders der Pro-duktionsfirma Pathé Frères, die in der Folge parallel Hunderte von Kinos betrieb, sowie ihrer Konkurrenten Gaumont und Select. Da lodern Gewalt und Leidenschaft vor feurig roter Kulisse in »Nuit de Noël« (1908) und beleuchten ein Ehebruchsdrama, das mit der Ermordung des Rivalen durch den Gatten endet, der den Verführer über die Klippen ins Meer stürzt. Auf dass Moral gerettet und die Ehre gerächt ist. Die Institution Ehe galt es zu hüten, weibliche Emanzipation, wie sie in den Zirkeln der Suffragetten postuliert wurde, zu unterbinden. Der Mann trat auf als Domestizierer, egal, ob er dabei eine komische Figur abgab.
Andererseits werden in den Filmen Autoritäten rebellisch demontiert, Gouvernanten überlistet, bigotte Jungfern traktiert. Das Ordnungssystem von Herrschaft und Knechtschaft wankt in hybriden Harlekinaden, wobei der Stand der Dienstboten unbändigen Spaß zu haben und zu verstehen scheint.
Nicht zuletzt birgt die soziale Frage Zündstoff – in dramaturgisch ausgereiften, spannungsvollen Erzählungen, die Zola oder Dickens verfasst haben könnten. Ein Arbeits- und Obdachloser in Paris besteht den »Kampf ums Leben« und erhält dank seiner Ehrlichkeit den schönsten Lohn. Ein Knabe, zum Waisen geworden und von hartherzigen Behörden ins Kindergefängnis gesteckt, findet Rettung und einen gütigen Adoptivvater. Eine Reportage begleitet – präzise und eindrücklich konkret – einen Kumpel ins Bergwerk und schildert die Arbeitsabläufe, bis der Malocher abends in seine Siedlung heimkehrt, während die Reichen behaglich am Kamin sitzen und sich Kohle aufschütten lassen.
Lust an visueller Manipulation, an Illumination, Trickserei und Tüftelei mit Special effects ist zu beobachten: Ein Taschenspieler bringt seitlich seine Hand ins Bild, um Münzen hervorzuzaubern und sie jemand anderem aus der Nase zu ziehen; Personen verschwinden oder erscheinen in giftgelben Wolken; schablonenkolorierte Demoiselles tanzen; und kokette weibliche Schmetterlinge schnappen sich einen Insektenforscher und tun ihm dieselben Torturen an, mit denen er die geflügelten Wesen piesackt. In »Danses Cosmopolites« (1907) werfen vereinte Nationen im Paar-Duett quer durch Stile, Epochen, Kulturen die Beine und kreieren für diese folkloristische Ethnologie die Kunst der Montage und des Schnitts. Wenn »Ein gefräßiger Neger« vorgeführt wird, der sich Sahnetorte ins Gesicht schmiert, mag Rassismus am Werk sein, jedoch vorrangig Schwarz auf Weiß ein optischer Kontrast gesetzt werden.
Scherzhaft wachsen der Phantasie Flügel, bis sie abhebt oder durchdreht. In »Drei Phasen des Mondes« kommentieren ein breit grinsender Honigmond, der sauertöpfische Butter- und der zänkische Senfmond nacheinander den Dialog eines entsprechend turtelnden bzw. streitenden Paares. Oder Sonne und Mond, aufgeputzt wie vom Filmpionier Georges Méliès, nutzen die Finsternis des einen Himmelskörpers für ein Techtelmechtel. Ein braver Monsieur mutiert nach Verzehr eines Stier-Steaks zur rasenden Bestie und lässt sich erst von einem Trupp spanischer Toreros zähmen.
Klischees und Stereotype nehmen in den Lehr-jahren des Kintopps ihren Ursprung, auch wenn sie motivisch und ikonografisch bereits nebenan in der Literatur, auf der Bühne und in den bildenden Künsten existieren. Die Frau wird idolisiert oder dämonisiert, der Teufel beschworen, die Liebe besungen, das Melodram ausbuchstabiert, das Unbewusste hervorgekitzelt, die Posse in den Slapstick getrieben (den Hund, der telefoniert und durch den Hörer zu Herrchen beordert wird, hätten sich Mack Sennett und Chaplin ausdenken können). Klerus und Bourgeoisie sorgen in Molière’scher Manier für Spott, wie ihn 20 Jahre später Murnaus »Tartuffe« verfeinert.
In einem bonbonbunten Kuriositätenkabinett, darin eine Dame Tierskulpturen magisch zu modellieren scheint, ist plötzlich der Animationsfilm da. Der Sandalenfilm antiken Zu-schnitts legt seine Kostüme an. Der Musikfilm tönt bereits, »Wenn der Vater mit dem Sohne« bummelt wie demnächst die Drei von der Tankstelle. Sogar die Selbstreflexion des Mediums existiert schon: Ein Mann geht ins Kino und betrachtet selbst auf der Leinwand eine Spielsituation, die der seinen gleicht.
Bewegung ist ein starker Antrieb – auch als Dingfestmachung von Zeit und ihres Ablaufs sowie als Demonstration räumlicher Ausdehnung und Überwindung räumlicher Grenzen. Man konnte, schreibt der Philosoph Henri Bergson, »die Bewegung als physikalische Realität in der Außenwelt und das Bild als psychische Realität im Bewusstsein nicht mehr als Gegensätze begreifen«. Die Kamera folgt einem Schienenstrang, rast durch Tunnel, hängt sich an Verfolgungsjagden und entdeckt die Schlägerei als Inbegriff physischer Präsenz. Die Parole »Action« war ausgerufen.
56. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen; Programme: Deutscher und Internationaler Wettbewerb, Kinder- und Jugendfilmwettbwerb, NRW-Wettbewerb, MuVi-Preis, Open Screening, Profile;
Sonderthema: »Vom Meeresgrund« mit Diskussionen und Begleitveranstaltungen;
Lichtburg Filmpalast; 29. April bis 4. Mai 2010; www.kurzfilmtage.de