TEXT: INGO JUKNAT
Noch ein paar Jahre, dann könnte Rüdiger Jordan ein Enthüllungsbuch schreiben. »Was uns Filme vorgaukeln« wäre ein guter Titel. Als Location Scout kennt der Mann die Drehorte vieler deutscher und internationaler Produktionen. Und da ist vieles nicht, wie es scheint. Nehmen Sie den Paris-Film schlechthin, »Die fabelhafte Welt der Amélie.« Sämtliche Innenaufnahmen seien in Köln gedreht worden, erzählt Jordan.
»Fremdländische Anmutungen« gibt Rüdiger Jordan auf seiner Homepage als Spezialgebiet an. Man könnte sagen, er ist Experte für Orte, die nach anderen Orten aussehen. Manchmal führt das zu komplizierten internationalen Ver-strickungen. Für den dänischen Film »Dear Wendy« sollte er in Deutschland ein Bergwerk finden, das aussieht, als gehöre es nach West Virginia, USA. Fündig wurde er am Niederrhein.
Dass so viele Filme in Nordrhein-Westfalen gedreht werden, die hier nicht spielen, hat unter anderem mit den Fördergeldern der Filmstiftung zu tun. Das Anderthalbfache der Zuschüsse muss im Land investiert werden, dann fließen die Gelder. Das heißt allerdings nicht, dass die Kulissen erkennbar lokal sein müssen. Theoretisch genügt es, wenn man Mitarbeiter oder Technik aus NRW einkauft. Für Rüdiger Jordan ist der Bezug zum Land allerdings sehr real. Es ist seine Aufgabe, Filmschauplätze zu finden. Er hat sich für Lars von Trier in den Wäldern des Siegerlandes umgesehen, für Ritterfilme Burgen am Rhein gesucht und in Düsseldorf nach Gangster-Milieus Ausschau gehalten.
Jordan ist immer mit einer Pocketkamera bewaffnet und schießt auch in der Freizeit Motive, die er spannend findet. »Eine Berufskrankheit«, gibt er zu. Bei der Suche nach geeigneten Dreh-orten nützt ihm auch das Wissen aus der Uni-Zeit. Er gehört zu der raren Spezies, für die das Studium der Kunstgeschichte unmittelbaren Praxiswert besitzt (und Geld abwirft). Er kennt Baustile und Landschaftsdetails, weiß, welche Gebäude in die 20er Jahre gehören und welche in die 30er. Während des Gesprächs zeigt er aus dem Fenster der »Zicke,« einem Café in der Düsseldorfer Karlstadt. »Die Straße hier könnte durchgehen für das Jahr 1910. Man müsste nur die Autos wegfahren, die Verkehrsschilder entfernen und die Poller rausnehmen. Die Laternen sind grenzwertig, das würde aber noch funk-tionieren.«
Als Laie vergisst man leicht, dass es beim Suchen nach Kulissen nicht nur um die gewünschte Anmutung und Epoche geht. Zugänglichkeit des Drehorts, Parkplätze, Drehgenehmigungen, eventuelle Tonprobleme in der Umgebung und ausreichend Platz für die Technik sind Faktoren, die Jordan berücksichtigen muss. Ob die Leute Kamerateams überhaupt tolerieren, spielt natürlich auch eine Rolle. Die Bewohner der Karlstadt seien auf Filmteams gar nicht so scharf, erzählt Jordan. Hier wurden unter anderem Teile der Seifenoper »Unter uns« gedreht.
Neben solchen Straßendrehs kümmert sich Jordan auch um Innenaufnahmen in realen Wohnungen. Wie findet er eigentlich heraus, wie es drinnen aussieht? Einfach klingeln? »Manchmal schon. Meistens werfe ich aber zuvor einen Zettel in den Briefkasten, damit die nicht denken, ich will ihnen ein Lexikon verkaufen.«
Bleibt die Frage, was man als Mieter davon hat, wenn sich ein 20-köpfiger Filmtross eine Woche lang in der eigenen Wohnung einquartiert. Die Honorare variierten stark, sagt Jordan. »Man kann aber schon sagen, dass da immer ein Urlaub bei rausspringt – ob das jetzt ein Wochenende im Harz oder drei Wochen Seychellen sind, hängt von der Dauer der Dreharbeiten und dem Aufwand ab, der getrieben werden muss. Und natürlich von der Kategorie der Wohnung. Eine Sozialwohnung ist schon mal günstig zu mieten; für eine edel eingerichtete, bürgerliche Wohnung in Düsseldorf-Oberkassel würde man mit ein paar Hundert-Euro-Scheinen nicht weit kommen.«
Inzwischen hat Jordan eine Datenbank, in der er Menschen aufnimmt, die ihre Wohnungen für Dreharbeiten grundsätzlich zur Verfügung stellen. Das Ganze sei allerdings noch ausbaufähig. »Ich freu’ mich natürlich über Angebote. Das erspart einem, wie ein Staubsaugervertreter von Tür zu Tür zu gehen und zu fragen, ›haben Sie nicht Lust, ihre Wohnung zwei Tage an den Film zu vermieten? Wie sieht denn Ihr Wohnzimmer aus, darf ich mal reinkommen?‹« Man merkt Jordan an, dass das einer der wenigen Aspekte seiner Arbeit ist, den er nicht so angenehm findet. »Das betrifft einen Bereich der Privatsphäre, den man ja selber gerne respektiert sieht.«
Als Location Scout bekommt er das Drehbuch eines Films (neben dem Regisseur und Produzenten) als einer der Ersten zu sehen. »Das ist faszinierend, weil man ein Bild davon entwickelt, wie der Schauplatz aussieht – lange, bevor der Szenenbildner da ist und anfängt, ein eigenes Konzept zu entwickeln.«
Ein gutes Beispiel für frühe Location-Suche war Lars von Triers »Antichrist.« Anderthalb Jahre vor dem eigentlich Dreh sei die Idee aufgekommen, den Film in Nordrhein-Westfalen zu drehen, auch wegen der Filmförderung. Jordans Auftrag lautete: Suchen Sie eine Hütte im Wald. Drei Wochen fuhr er übers Land, rief bei Förstern und Gutsbesitzern an, besichtigte Wald- und Jagdhütten. Insgesamt schaute er sich mehr als 30 potenzielle Drehorte an. Einfach war es nicht. »Man findet schon ein paar wunderschöne, einsam gelegene Hütten. Da kommt man allerdings nur mit dem Geländewagen hin und mit dem Stromgenerator überhaupt nicht. Und wenn Sie einen halben Drehtag brauchen, um die Schauspieler ans Set zu bringen, hat es auch keinen Sinn.«
Am Ende wurden die »Antichrist«-Szenen an einem Hang im Siegtal gedreht. Die Hütte haben sie vor Ort selbst gebaut. Durch die Nähe zu Köln konnte auch die Technik leicht hin- und hertransportiert werden. Mit dem Ergebnis waren alle zufrieden. Dass das Siegerland im Kino als Teil der Rocky Mountains durchgeht, kann Jordan auch für sich verbuchen.
Manchmal darf NRW aber auch NRW sein. So bei der Krimikomödie »Hardcover« (2006), die in Düsseldorf spielt. Für den Film sollte Jordan nach Gangster-Milieus Ausschau halten. Heraus kamen die Oberbilker Kiezszenen. War das Ganze ein Versuch, den Kö- und Oberkassel-Klischees der Stadt ein anderes Bild entgegenzusetzen? »Nein, eigentlich nicht. Die Produzenten wollten die Geschichte nur in einer Stadt erzählen, die noch nicht so abgefilmt ist wie Köln. Die Kulissen haben sich dann am Stoff orientiert – die Gangster in dem Film hätten einfach nicht auf die Kö gepasst.«
Derzeit scoutet Jordan ausnahmsweise in Thüringen. Gesucht wird ein Flusstal in einer waldbestandenen Hügellandschaft mit Blick auf eine Autobahnbrücke. In der Nähe soll es auch noch ein Krankenhaus mit Kleinstadt drum herum geben. Jordan wirkt nicht, als würden ihm diese recht detaillierten Wünsche zu schaffen ma-chen – und das, obwohl Thüringen nicht sein Spezialgebiet ist. Wie geht er in einem solchen Fall, bei einem für ihn mehr oder weniger unbekannten Gebiet, eigentlich vor?
Er fange stets am Schreibtisch an, sagt Jordan. »Es gibt da mittlerweile wunderbare, internetgestützte Hilfsmittel, die Hubschrauberflüge über die Welt ermöglichen.« Er lacht. Dass er den Namen des Web-Dienstes nicht zu nennen braucht, weiß er natürlich. »Früher habe ich öfter nach einem echten Hubschrauberflug gefragt, den hat aber nie jemand bezahlt.« Heute sei das nicht mehr nötig. Neben dem Satellitendienst im Internet nutzt Jordan auch Tourismus-Portale für die Erst- und Frührecherche. Der Großteil der Arbeit besteht aber immer noch im Check vor Ort.
Jordans Beruf ist noch recht neu. Vor 20 Jahren hätte man in Deutschland vermutlich keinen Menschen gefunden, der sich selbst als vollberuflichen Location Scout bezeichnet hätte. Das Suchen von geeigneten Drehorten erledigte meist der Aufnahme- oder Produktionsleiter – gewissermaßen als Nebenjob. So war es auch bei Rüdiger Jordan, der seit 1990 beim Film ist und lange Zeit in den genannten Funktionen gearbeitet hat. Dass es inzwischen spezialisierte Location Scouts gibt, hat weniger mit gestiegenen Filmbudgets zu tun, sondern eher mit einer größerer Professionalisierung und Arbeitsteilung in der Branche. Die Location-Suche gehörte zu Jordans Lieblingsaufgaben als Produktionsleiter. »Ich hatte am Scouting immer viel Spaß, weil ich ein neugieriger Mensch bin und gerne hinter Türen und Hoftore gucke. Durch das Studium der Kunstgeschichte hatte ich außerdem ein großes Interesse an Architektur. Das hat meinen Blick für Stile, Zeiten und Orte geschult.«
Der Weg zum vollberuflichen Scout verlief allmählich. Wahrscheinlich war es auch die Reaktion auf den anstrengenden Job als Produktionsleiter. »In der Produktionsabteilung gibt man anderen die Möglichkeiten, schöne Bilder zu erschaffen, stimmige Figuren zu zeigen und Geschichten zu erzählen. Man sieht unsere Arbeit eigentlich nur, wenn mal etwas nicht geklappt hat.« Das Scouting sei dafür ein guter Ausgleich, »weil man auf der Seite derjenigen steht, die visuell mitgestalten.« Trotzdem arbeitet Jordan auch heute noch ab und zu als Produktionsleiter, wenn ihm das Projekt zusagt.
Zur Professionalisierung seines Berufs hat auch die Filmstiftung NRW beigetragen. Seit einer Weile betreibt sie ein Portal im Netz, in das die Scouts einen Teil ihrer gefundenen Motive einstellen. Derzeit sind etwa 4.000 Orte abrufbar – vom Bauernhof bis zur Industrieruine. Indem es die Vielfalt möglicher Schauplätze im Land aufzeigt, dient das Ganze auch als Anreiz für ausländische Produktionen, in NRW zu drehen. Von der Filmstiftung spricht Jordan in warmen Worten. Das abstrakte Konzept der Filmförderung – an Biografien wie seiner wird es konkret.