TEXT: ANDREAS WILINK
Es ist ein großer Moment: Laurence tritt vor seine Schüler – geschminkt und in Frauenkleidern. Das erste Mal, dass er sich überhaupt in der Öffentlichkeit in seiner neuen Identität zeigt. Er sagt nichts, steht nur da, auch die Klasse schweigt, bis eine Schülerin den Bann bricht und einfach nach dem Unterrichtsstoff auf Seite acht fragt. Auch so kann man mit dem Unbekannten umgehen.
Montréal um 1990, dazwischen in frühere Jahre rückblendend und dann weiter in der Zeit voran schreitend: Laurence (Melvil Poupaud) ist Gymnasiallehrer und lebt mit der Filmausstatterin Fred zusammen, einer anfangs schrillen, von Koks umrauschten Person, die ihn mit ihrer crazyness ansteckt. Dann gesteht er ihr, weil es ihn töten würde, länger zu schweigen, dass er sich nicht als Mann fühlt. Dass es ein Verbrechen wäre, das Leben der Frau in ihm zu unterdrücken. Es wäre »Mord«, um das berühmte letzte Wort aus Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Roman »Malina« zu benutzen. Auch seinen Eltern teilt Laurence die beabsichtigte Verwandlung mit, eigentlich nur der Mutter (die wunderbare Nathalie Baye), sein Vater hat sich längst in seine (TV-)Parallelwelt zurückgezogen.
Für Laurence ist die Revolte unvermeidlich. Seine Mitwelt reagiert auf die Normverletzung ablehnend. Aus dem Schuldienst entlässt man ihn wegen »psychischer Störung«. Bevor er den Konferenzraum und die Kollegen verlässt, schreibt er an die Tafel: »Ecce homo«, was hier gar nicht pathetisch, sondern schlicht sachlich wirkt. Fred (Suzanne Clément) trennt sich zunächst nicht von ihm, wird aber mit dem ständigen Starren auf diese Weder-Noch-Person nicht fertig und verliert die Fassung. Sie flüchtet in eine konventionelle Ehe, Vorstadt-Villa, Mutterrolle und bürgerliches Milieu, bis sie es irgendwann kaum mehr erträgt. Ihre versnobte Mutter und die Schwester, die ihre Drogensucht mit dem Erwachsenwerden nicht abgelegt hat, sind wenig Hilfe. Sie suchen sich wieder: »Es gibt Menschen, mit denen zu leben nicht leicht und die zu lassen unmöglich ist« (Thomas Mann).
»Laurence Anyways«, das in seiner visuellen Fantasie und Vitalität explodierende zweieinhalbstündige Werk des 1989 geborenen Wunderkindes Xavier Delon, das nach dessen vorherigen zwei Arbeiten jede Erwartung übertrifft, ist ein Film der Blicke. Ein Augenspiel. Über dem Bett von Laurence und Fred hängt die Mona Lisa, Leonardos Gioconda in ihrer heiteren Unergründlichkeit und changierenden Geschlechtlichkeit. Die Reproduktion wird Laurence später mit der Spraydose »Liberté« übersprühen. Die Kamera begleitet häufig die Wege, Gänge und Spießrutenläufe von Laurence aus der Perspektive von Passanten und sieht zu, was dieser »Fremdkörper« mit ihnen macht: Die Menschen, jung oder alt, Mann oder Frau, weiß oder andersfarbig, schauen irritiert, verschämt, belustigt, schauen weg oder reagieren offensiv, misstrauisch oder verstockt. Noch eine Verwandlung macht Laurence durch: von der Scham zum Stolz.
Einen Schutzraum gewähren Transen, Homosexuelle, Schwulenmütter – die groteske Wahlfamilie der »Five Roses«, die eine ehemalige Kirche zu ihrem barock-kitschigen Tabernakel umgewidmet haben.
»Laurence Anyways«, diese wilde und zärtliche Konfession und Metamorphose in ihrer emotionalen Farbdramaturgie und ihren sprühenden Ideen, kann manchmal nerven und packt dann wieder durch seine krasse Klarheit über das Ausgeliefertsein zweier Menschen an sich selbst und den anderen. Bilder! Bilder! Eine Kussszene vor wehender Wäsche wie in einer Gasse Neapels; leere Räume, in die weiße Stores wie Flaggen hineinwehen; ein Schnee-Regen, begleitet vom symphonischen Beethoven; hämmernder Pop und schmelzender Schmerz. Vielleicht ist der Franco-Kanadier Xavier Dolan der größte Liebes-Regisseur seit Francois Truffaut.
»Laurence Anyways«; Regie und Buch: Xavier Dolan; Darsteller: Melvil Poupaud, Suzanne Clément; Kanada 2012; 168 Min.; Start: 27. Juni 2013.