TEXT: SASCHA WESTPHAL
Eigentlich sucht Karl Roßmann nur das, wonach sich fast alle sehnen: ein Zuhause, das Gefühl, zu jemandem zu gehören, nicht ausgeschlossen und verachtet zu sein. Doch der schuldlos schuldige Siebzehnjährige, den seine Eltern nach Amerika verstoßen haben, nachdem das Dienstmädchen, das ihn verführt hatte, schwanger geworden war, findet bei seiner Reise in die und durch die Neue Welt nichts als Ausbeutung und Gewalt. Wo auch es ihn hintreibt, erwarten ihn nur weitere und fürchterlichere Demütigungen.
Philipp Hochmair spielt in Bastian Krafts – am Hamburger Thalia Theater entstandener – Adaption von Franz Kafkas Romanfragment »Amerika« nicht nur diesen »Verschollenen«. Er begibt sich zugleich auch in die Rollen seiner Peiniger. Fortwährend wechselt er zwischen Kafkas Figuren hin und her. Eins verbindet sie dabei: ihre absolute Ohnmacht, die alle außer Karl in sinnlose sadistische Allmachtsphantasien fliehen lässt. Ein Entkommen aus dem Strudel, der den von daheim Vertriebenen hinabzieht, ist unmöglich. Selbst das »Naturtheater von Oklahoma«, das das Publikum rekrutieren will, verspricht diesem Karl nur eine höchst ungewisse Zukunft.
»Vom Suchen und Finden« lautet das Motto des Theatertreffens der 34. Duisburger Akzente, die dem Gedenken an den 1512 geborenen Mathematiker, Geographen, Philosophen, Theologen und Kartographen Gerhard Mercator gewidmet sind. Die gastierende Kafka-Aneignung verlegt den Prozess des Suchens und Findens nahezu ins Innere: ein Trip durch die Untiefen der menschlichen Natur, die Hochmair virtuos kartografiert.
Eröffnet wird das Duisburger Theatertreffen mit Schillers Bearbeitung von Goethes »Egmont«, koproduziert vom Südthüringischen Staatstheater Meiningen mit Eisenach. Eigentlich scheint den wortgewandten, von der Bevölkerung geliebten Politiker nichts mit Kafkas Roßmann, dem armen Tropf, zu verbinden. Dennoch kann auch der charismatische Graf Egmont, der glaubt, den Herzog von Alba, Statthalter der Spanischen Krone in Brüssel, auf seinen liberalen Kurs verpflichten zu können, nur scheitern. So ist der ungestüme Idealist auf dem Territorium der Machtpolitik des 16. Jahrhunderts genauso verloren wie Karl in Amerika. Die Nähe zum Volk suchend und blind für die Gefahren, die für ihn vom wankelmütigen Flandern wie von Spanien ausgehen, steuert er auf seinen Untergang zu.
Der junge Regisseur Rudolf Frey hat der Tragödie aus der Epoche Mercators einen zeitlosen Anstrich gegeben. Dabei greift er nicht nur auf Schillers straffe, den Widerstreit von Freiheit und Tyrannei betonende Bearbeitung zurück. Zudem hat er, erstmals seit mehr als 100 Jahren, Beethovens komplette Bühnenmusik für den »Egmont« in die Aufführung integriert. Live gespielt, steigert es die emotionale Wucht des Dramas, passend zum sprichwörtlichen »Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt«.
Vom Suchen und Finden – damit können auch Erkenntnisse und Entdeckungen gemeint sein, die die Welt und ihre Werte umwerten. Niklas Ritter inszeniert Bert Brechts selten gespieltes Lehrstück »Leben des Galilei«. Die Koproduktion des Akzente-Theatertreffens mit dem Theater Bonn hat Premiere in Duisburg, bevor sie in den Bonner Spielplan wechselt. Anhand von Brechts Porträt Galileis als Opportunisten, der für sein Überleben seine Überzeugungen verrät, soll das ambivalente, sich wechselseitig bedingende Verhältnis von Wissenschaft und Macht ausgelotet werden.
Ein einziges großes Spiel vom Suchen und Finden, das auch Fluch bedeuten kann, ist Roland Schimmelpfennings »Die vier Himmelsrichtungen«. Der Autor selbst hat das poetische, mit mythologischen Anspielungen durchsetzte Stück, in dem sich Wege und Schicksale von vier aus den vier Himmelsrichtungen kommenden Menschen fatal kreuzen, für die Salzburger Festspiele uraufgeführt. Die Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin ist vor allem ein Fest für vier außergewöhnliche Schauspieler.
Im Zentrum steht die von Kathleen Morgeneyer gespielte junge Frau, eine Kellnerin, in die sich ein Mann mit Clownsmaske (Ulrich Matthes) und ein von Raubüberfällen lebender kräftiger Mann (Andreas Döhler) verlieben. Almut Zilchers Wahrsagerin als Vierte im Bunde, die einst aufgrund heftiger Schneefälle in der namenlos bleibenden Stadt strandete, kann nur zusehen, wie sie erneut ihre Heimat verliert. Das Quartett jongliert perfekt mit den Ebenen dieses so rätselhaften wie letztendlich simplen Textes, wechselt furios von direkter zu indirekter Rede und schafft aus Schimmelpfennings lyrischen, mit Wiederholungen und Variationen arbeitenden Beschreibungen komplexe Figuren, deren kurzes Glück und langes Leiden an Zufall und Schicksal ins Herz trifft.
Abgerundet wird das Programm durch ein Gastspiel von Ingrid Lausunds Monodrama »Der Weg zum Glück« sowie drei Jugendtheater-Produktionen. Das Theater Strahl Berlin lädt mit der Züricher Kompanie Kopfstand unter dem Titel »52,3° Nord« zum Fremdsein ein; der Jugendclub Duisburg zeigt die eigenen »Mercator-Projektionen« und »Ein Spiel vom Jedermann«. 3. bis 16. März 2012; www.duisburger-akzente.de