TEXT: ANDREAS WILINK
Es gibt den Song – und nun gibt es den Film zum Lied: zu John Lennons Schrei nach »Mother«, 1970 aufgenommen und am Schluss von »Nowhere Boy« zu hören. Der Film – ein überraschendes Spielfilmdebüt und absolut zu Recht von der Regisseurin dem verstorbenen Anthony Minghella gewidmet, denn es hat eine ähnlich intensive Leuchtkraft und ebenbürtige emotionale Tiefe – endet, wenn er John, Paul und die anderen nach Hamburg ziehen lässt. Dort beginnt die Legende der Beatles. Sie nachzustellen, wäre nur beschwert gewesen von Deutungs-Debatten.
Was aber Matt Greenhalgh (Drehbuch) und Sam Taylor-Wood (Regie) über einen Zeitraum von fünf Jahren (1955 bis 1960) in die Erinnerung holen, ist einfach – auch unabhängig von der künftigen Ikone John Lennon – eine starke Erzählung: ein Familiendrama, eines O’Neill oder Thomas Wolfe würdig.
John wohnt, seit er fünf ist, bei Tante Mimi und deren Mann George. Es gibt keinen Kontakt zu seiner Mutter Julia, Mimis leichtlebiger Schwester, er weiß nicht mal, dass sie ganz in der Nähe mit neuem Mann und Kindern zu Hause ist. Das ändert sich mit Georges Beerdigung, als John sie sieht und dann die Begegnung provoziert. Die Beiden ähneln sich in ihrer unkonventionellen Gesinnung. Sie büchsen aus zum South Pier von Blackpool (das sieht so schön aus wie ein Neil-Jordan-Film – auch ein Kompliment für Taylor-Wood!); sie bringt ihm Banjo-Spielen bei, gibt ihm eine Party, steckt ihm Geld zu für den Rückkauf einer Gitarre, die ihm die gestrenge Mimi als erzieherische Maßnahme wegnahm.
Es sind Gegenwelten: Mimi (Kristin Scott Thomas), die eiserne bürgerliche Lady, in ihrem Gefühlshaushalt kontrolliert wie die Queen, und die kleinbürgerliche Bohèmienne Julia (Anne-Marie Duff), die nichts auf die Reihe kriegt, die Männer gewechselt, zwei Kinder fort gegeben und nur ihren kessen Charme behalten hat.
Nichts vom Liverpool eines geteerten Proletariats, sondern bescheiden gediegene Verhältnisse im Reihenhaus. Little John geht mit Ermahnungen auf den Schulweg: »Setz die Brille auf« – sie ist schon rund und aus Metall. Man spürt förmlich, wie sich in John (fabelhaft: Aaron Johnson) etwas sammelt, wie er die Kindheit einpackt und bewahrt, wie der verlorene Junge und sarkastische, verletzbare Schmerzens-Clown sich sucht und findet jenseits von High School und Kunsthochschule.
Hier kommt die Musik ins Spiel, der Sound der Zeit und ihre neuen Codes: James-Dean-Posen und Elvis-Tolle, die Initiation durch Rock’n’Roll von Little Richard, Buddy Holly und Co., pubertärer Übermut (wie harmlos das doch damals war!), Rebellion am Küchentisch und Aufbegehren gegen den Lehrkörper. John gründet die Skiffle-Band »The Quarrymen« schon mit George. Dann steht ein kleiner Gentleman mit rosa Nelke im Übungsraum: Paul – auch ihrer beider Konkurrenz im operativ kreativen Geschäft deutet sich bald an. »Nowhere Boy« ist ein großartiger filmischer Entwicklungsroman: klug, gewitzt, nostalgisch, ohne je kitschig zu sein, quicklebendig, traurig und voller Abschiede und Aufbrüche.
»Nowhere Boy«; Regie: Sam Taylor-Wood; Darsteller: Aaron Johnson, Kristin Scott-Thomas, Anne-Marie Duff, Thomas Brodie Sangster, Sam Bell; England 2010; 98 Min.; Start: 8. Dez. 2010.