Der Blick ins Programm der Oberhausener Kurzfilmtage zeigt es gleich: Die einen Beiträge lassen sich bewegen von Krieg, Krisen, Katastrophen und Existenzerschütterungen, die weit mehr sind als bloß Ruhestörung für Europas Frieden. Oder sie betrachten (skeptisch) kleine Inseln des Glücks als Reaktion darauf. Etwa ein Drittel der 16 Filme hingegen, die es im 70. Jubiläumsjahr des Festivals zu sehen gibt, driftet ab in Belanglosigkeit, hegt sich ein in abgedrehter Privatheit oder in einem rigiden bzw. subjektiv artifiziellen Formalismus.
»Les Microbes«
Aber natürlich gibt es auch sehenswerte Entdeckungen zu machen: Am eindringlichsten und künstlerisch eigenwilligsten ist »Les Microbes« von Matze Görig. In einer heillosen Spielzeug- und Puppenstubenwelt brennen zerstörte Häuser. Durch ein Pappmaché-Gebirge und illuminiertes Miniatur-Industriegelände rollt eine zerbeulte Eisenbahn. Die Bilder nehmen ungesunde Farben an, staffeln, stapeln und vermischen sich, das Kaputte überwuchert das vormals Intakte; vereinzelte ‚echte’ Menschen sind wie ausgesetzt in dieser künstlichen »Blade-Runner«-Unnatur wie aus dem Reagenzglas. Nur ein porzellanartiges filigranes Einhorn reckt seine schöne Gestalt als sarkastischer Kommentar. Das Fabeltier steht in einem falschen Rosarot-Dekor, das eine ebenfalls rosa Sintflut vernichtet.
Björn Melhus’ »dramatic music continues«
Alles behauptet, reine Imagination. Denn Kino findet im Kopf satt. Wir müssen keine Bilder sehen, nicht ein Geräusch hören, um zu verstehen. Unser eigener Film entwickelt sich entlang der Hinweis-Einblendungen, die auf der Leinwand annoncieren, was nicht da ist jenseits des gleichbleibenden Rauschens: Schreie, schweres Atmen und Keuchen von Menschen, Hundegebell, Bomben, die detonieren, das Klicken von Gewehren, Lärm von Helikoptern, Sirenen, Explosionen. Eine Partitur des Schreckens. Kein Kriegsfilm, sondern ein Film über den Krieg. Vielleicht ist dies die intensivste Möglichkeit, das zuletzt Unmögliche darzustellen, vergleichbar dem ungeschriebenen Gesetz, keine Szene aus dem Innersten von Auschwitz, der Gaskammer, nachzustellen. Ein Gebot der Achtung vor dem Menschen im Angesicht des Unmenschlichen. »dramatic music continues« von Björn Melhus macht spürbar, dass es etwas gibt, das sich dramatischer Nutzbarmachung zu entziehen hat und ist darin Prolog, Epilog und Durchführung in einem.
»A war I’ve never seen«
Auf geradewegs entgegengesetzte Weise nähert sich Fariba Buchheim in »A war I’ve never seen« der Belastung durch eine vergangene, doch unvergängliche Überlieferung: mittels Rollenspiel und Reenactment. Eine junge Französin und zwei weitere »Walküren« ziehen sich Wehrmachtsuniformen an, als bedürfe es dieser Ver-Kleidung für hautnahes Erleben dessen, was eine ältere Generation in sich bewahrt. Einfühlung in die Mutation, die Krieg und Kriegs(un)taten anrichten, durch Nachstellung mit Symbolen, Abzeichen, Relikten, Frisuren, Handlungen, Gesten, militärischen Übungen, sowie durch Besuche in der Normandie und an der Maginot-Linie, wo ein Spektakel Krieg ‚spielt’. Ein Interview, in dem von der Faszination für Stringenz, Effizienz und Organisation des deutschen Militärs im Vergleich zur russischen Armee die Rede ist, soll Irritation auslösen und tut es auch, da offenbar dabei dem Gedanken nicht nachgegangen wurde, was diese Qualitäten in Bezug zur Methodik des Tötens bedeuteten. Seltsam sich naiv stellender Exorzismus.
»Cuando Ilegue la Neblina«
Selbst eine Naturbetrachtung ist nicht unschuldig und auch kein Drink am Strand. Stacheldraht auf Mauern und ein kreisender Hubschrauber zeigen an, dass hier in Tijuana das Meer nicht unbegrenzt ist. Nur in mondlosen Nächten oder wenn der Nebel kommt (»Cuando Ilegue la Neblina«) ist eine Chance gegeben, die überwachte Grenze von Mexiko in die USA zu überwinden. Illegale und Flüchtlinge erzählen der Regisseurin Laurentia Genske von ihren Versuchen und ihrem Scheitern, während dieser Berichte wechselt der dokumentarische Film zur schwarzweißen Animation, in die vergossenes Blut rot aufblendet.
»Hot Lava Night«
Ein junges Paar trennt sich; er wirft ihr den Ring hin und meint, er sei wie ein streunender Kater und nicht gemacht fürs Monogame. Auch draußen vor der Tür in einem regentrüben New York City ist die Stimmung down, als die Frau das Haus verlässt. Eine Katastrophe bahnt sich an, referiert eine Radiostimme: ein Verhängnis für Amerika und die Welt. Die Frau aber findet ihr queeres Glück in der Umarmung einer Motorradbraut, so wie die Menschheit im Chaos des Zusammenbruchs genötigt ist, sich heroisch zusammenzutun: Hand in Hand. »Hot Lava Night« von Keren Cytter findet im Schatten drohender Auslöschung die Antwort in der Intimität eines Paars.
»Vermessung der Tristesse«
Was ist zu tun? Das Leben feiern, zumindest es verdichten, wenn es sich schon nicht verlängern lässt, um den Satz von Roger Willemsen aufzunehmen, der dem filmischen Essay »Vermessung der Tristesse« von Agnieszka Jurek vorangestellt ist und ebenfalls eine »Deutschlandreise« unternimmt wie das gleichnamige Buch von Willemsen. So traurig ist diese Entdeckungsreise, Spurensuche und Erinnerungsausforschung gar nicht: die Schönheit und Erhabenheit von Landschaft, das Spiel von Tieren, Wind in den Bäumen, Wolken am Himmel und über dem Meer, das Chanson J’tattendrai, Home Videos. Aber dazwischen immer wieder ein medizinisches Untersuchungslabor, wo der Patient für einen Scan im die Röhre geschoben wird und still zu liegen hat, während eine neutrale Stimme ihm Anweisungen gibt. Können auch Bilder salbungsvoll sein? Doch, ja, und ein bisschen bedeutungsvoll, ein bisschen banal, ein bisschen beliebig, wie das Leben eben.
»Katalin’s Ballad« und »Like Horses standing in the rain«
In »Katalin’s Ballad« (Nahia Garcia de Andoin) ist eine deutsche Kleinstadt Schauplatz einer nächtlichen, gespenstischen Begegnung. Eine junge Immigrantin auf Zimmersuche folgt einer anderen jungen Frau bis zu deren Wohnung, wo das Knarren des Treppenhauses das einzige Geräusch ist und sie die Andere wie tot daliegend findet und sich zu ihr legt. Die Stadt als realer Ort und Metapher für Einsamkeit dokumentiert auch Nicolas Schmidt in »Like Horses standing in the rain«, wenn sich das urbane Gelände vom Zug aus ausdehnt und jemanden zum Christfest nach Leipzig bringt: heim, wo Weihnachtsmänner in Pferdekutschen unterwegs sind, die Nacht sich mit Lichterglanz schmückt und Rauchmännchen drehen.
»sans histoire«
Der Mond verbirgt sich hinter Wolken; Tiere der Nacht ziehen ihrer Wege; dann wieder spült das Meer seine Wellen an den Strand. Und der denkende und fühlende, schlaflose oder träumende Mensch irrlichtert durch seinen bewussten, halb- oder unbewussten Zustand. Maya Schweizer schwimmt und steuert in »sans histoire« durch ihren emotionalen Strom, bettet sich in die Natur, setzt den Kontrast zur technisierten, virtuellen, digital manipulierten Gegenwart des In- oder Transhumanen und der Künstlichen Intelligenz, zapft den Speicher ihres mémoire und seiner assoziativen Verflüssigungen an; und nimmt alles in allem eine Fluchtbewegung vor, die Ursache hat in der Furcht vor dem Namenlosen oder auch Benennbaren, das auf uns zukommt – wenn es nicht bereits da und in der Welt ist.
Die 70. Internationalen Kurzfilmtage laufen vom 1. bis 6. Mai 2024. Das Programm enthält die Sektionen Internationaler, Deutscher, NRW- sowie den Kinder- und Jugendfilm-Wettbewerb. Dazu kommen als Thema »Sport im Film« mit historischen Beispielen, die »Profile« (Abraham Ravett, Mox Mäkelä, John Torres und Davorin Marc) sowie ein Podium und eine Tagung zur »Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit: Kultur und Öffentlichkeit«.