»Was ist Liebe?«, fragt Marianne. Ödön von Horváth und Karin Henkel antworten: Liebe ist eine Hatz, ein Zweikampf, eine Grobheit und Gemeinheit, ist Selbstpreisgabe – »und Glück«, dessen zwei Silben im Bochumer Schauspielhaus so oft wiederholt und verknappt werden, bis sie klingen wie »Un(d)glück«. Im Hintergrund der Bühne stiert ein Totenschädel hervor mit leeren Augen- und Nasenhöhlen. Karin Henkel musste nicht lange suchen, um in den »Geschichten aus dem Wienerwald« den Totentanz finden. Ein Requiem mit dem Dies irae und Lacrimosa auf einem grellen Trauerton.
Ein Gulli und Abfluss: das Letzte, was von der Donau bleibt
Es sind bittere und böse Stunden, in denen Marianne zugrunde gerichtet wird von ihrem Vater, dem Zauberkönig der Puppenklinik, von Oskar, dem Fleischhauer, dessen Liebe sie nicht entkommt, von Alfred (Ulvi Teke), dem Hallodri, Milchbubi, Schoß- und Mutterkind, der anfangs, als wäre er von einem unsichtbaren Dompteur gezügelt, im Kreis herum trippelt, auf Trab gebracht wird und zur schrill geschlagenen Kinderrassel seiner Großmutter zucken muss. In der Mitte der Bühne: ein Gulli und Abfluss – das Letzte, was von der Donau bleibt. Um den blinden Fleck Wasser herum ein Kühlhaus mit Gefriertruhe. Aus ihr werden später acht Mariannen steigen: ballettöse Wesen in adretten, gestärkten rosa Kleidchen wie aus seiner Porzellan-Fabrikation oder Andersens Märchen-Bestiarium. In Plastikfolie eingewickelt, liegen ein paar Körper und ein Skelett am Boden. Einer davon gehört Marianne, die an einen Haken aufgehängt, wie in einem katholischen Ritual als bekränzte Heiligen-Statue lebendig zu Grabe getragen und kurz vor Schluss von ihren Knochen-Männern umklammert wird für die Höllenfahrt, die für sie Weiter-Leben meint.
Ins Manegenrund hinein hängen Mikrofone, als seien es Galgenstricke. Der Metzger hantiert mit der Kettensäge und spritzt eine ausgeweidete Sau ab. Zwei geschlechtsneutrale Gestalten in schwarzen bodenlangen weiten Röcken (Gina Haller, Thomas Anzenhofer) – im Gewand unfrommer Nonnen – sind die Gehilfen beim Geschäft des Sterbens. Auf Thilo Reuthers Bühne erhebt sich noch ein kleiner Grabhügel – für Mariannes Söhnchen Leopold, der um sein junges Leben gebracht wird. Jede Berührung mit dieser visuell und akustisch (Lars Wittershagen) aufgeladenen Welt ohne Gott führt zur Verkühlung.
Keine Wienerische Weichheit
Oskar (Mourad Baaiz) in seinem viel zu eleganten Aufzug ist befangen wie in einem Irrtum. Die Trafikantin Valerie (Karin Moog) in knapp rotem Leder und mit tragisch geschminktem Mund könnte Otto Dix gemalt haben. Student Erich (Marius Huth) ist elastisch rechtslastig. Bernd Rademacher hat für Mariannes Vater, den Zauberkönig, keine Wienerische Weichheit, sondern kaut nüchtern auf westfälischem Pumpernickel. Seinen Streifenanzug trägt er wie ein witzloser Clown. Marina Galic als Marianne könnte in einer Performance ihrer Namensschwester Marina Abramovic spielen: krass abstrahiert vom Romantischen, nicht demütig und defensiv, sondern schnöde aufrührerisch.
Das sich in unsere Gegenwart hineinfressende Normalitäts-Kabinett besteht aus Ausrufezeichen in Fleisch und Blut. Maskierte, deren Larven nach der Pause sich noch um Nuancen verschärfen, so dass etwa der stramm reaktionäre Erich in seinem Freizeitlook nun in HJ-Senfgelb dick aufträgt. Karin Henkels Theater-Menschen werden nass gemacht, versenkt, ausgerenkt, gewürgt. Sie rammeln, strampeln und schießen sich einen ab, kübeln Blut aus, stechen ins Geschlecht, treffen ins Herz. Der Mann, den die Regisseurin Henkel und das vorzügliche Bochumer Ensemble in ihrer ausformulierten Inszenierung scharf stellen, ist eine Schwachheit wie in einem Chanson von Ingrid Caven, die Frau ist der Frau ihr ärgster Feind und Träumerei ein galliger Hohn. »Woran scheitert man im Leben?«, fragt Theodor Fontane. »Immer an der Wärme.«
5., 6., 25., 26. Oktober und 2., 10., 22. und 27. November, Schauspielhaus Bochum, www.schauspielhausbochum.de