TEXT: MARTIN KUHNA
Die Eltern, Hubert und Emerentia Kremer, wohnten in Gangelt bei Aachen, und sie nannten ihren Sohn Gert. Doch bei seiner Geburt am 5. März 1512 waren sie in Rupelmonde bei Antwerpen, wo Gerts Onkel Gisbert wohnte. Dorthin verlegten die Kremers ihren Wohnsitz; das Kind wurde nun Gheert de Cremere genannt, wie es in Flandern der Brauch war. Das dritte Alias folgte, als Gheert sich mit 18 Jahren an der Universität Löwen immatrikulierte. Da nannte er selbst sich Gerardus Mercator Rupelmundanus. Nicht weil ihm Kremer/Krämer besonders banal erschienen wäre. Ein latinisierter oder gräzisierter Name war de rigeur in jenen humanistischen Kreisen, in denen der junge Mann sich bewegte. In weniger altsprachlichen Zeiten hat sich bei uns die Mischform Gerhard Mercator etabliert.
Berühmt bis auf den heutigen Tag ist Mercator als Kartograf. Noch in Löwen hat er sich unter anderem mit einem Erd- und einem Himmelsglobus hervorgetan. Nachdem er 1552 nach Duisburg gezogen war, legte er 1554 eine Karte Europas vor und 1569 eine Weltkarte, mit der er sich unsterblich machte. Mercator projizierte die Abbildung der kugelförmigen Erde derart winkeltreu auf die zweidimensionale Fläche, dass ein gesteuerter Kurs erstmals als Gerade eingezeichnet werden konnte und Längen- wie Breitengrade überall im gleichen Winkel schnitt. Dass Größenverhältnisse dann nicht stimmen und beispielsweise Afrika immer zu klein ist, nahm Mercator in Kauf, wegen der Vorteile für die Navigation: ad usum navigantium. Wegen dieser Vorteile ist die »Mercator-Projektion« noch immer in Gebrauch.
Die Frage, was für ein Mensch das Kartengenie Gerhard Mercator war, hängt eng zusammen mit dem Staunen darüber, dass er 1552 aus dem gelehrten Löwen nach Duisburg zog und 42 Jahre in diesem Provinzstädtchen blieb. Früher hieß es, dass er vor der katholischen Inquisition ins tolerante Duisburg geflohen sei. Und dass zuvor Wilhelm (»der Reiche«), Herzog von Jülich-Kleve-Berg, Mercator eine Professorenstelle an der geplanten Universität Duisburg versprochen habe. Von beidem stimmt wenig, meint Wilhelm Krücken. Er war Lehrer am Duisburger Mercator-Gymnasium. 1993 ließ er sich vorzeitig pensionieren, um zum 400. Todestag des Kartografen ein Buch fertig zu schreiben. Es ist Teil des zu fünf Bänden angewachsenen Werks »Ad maiorem Gerardi Mercatoris Gloriam«.
Krücken sagt, es gebe keinen Beweis, dass Mercator in Löwen einen Doktorgrad oder auch nur einen Magister-Abschluss erworben hat. Er sei vermutlich ein Studienabbrecher gewesen. Die starre Scholastik der Löwener philosophisch-theologischen Lehre müsse für Mercator unbefriedigend gewesen sein. Er war zuvor von den »Brüdern vom gemeinsamen Leben« erzogen worden, so wie Erasmus. Wie Erasmus wandte sich Mercator nicht dem Luthertum zu, sondern bewegte sich in einem humanistisch-reformatorischen Zwischenfeld, ohne mit der katholischen Kirche zu brechen. Als Aussteiger, so Krücken, habe Mercator sich nach 1532 privat weitergebildet, bis er 1534 Schüler und Mitarbeiter des Astronomen und Kartografen Gemma Frisius wurde. Bald sei Mercator gutverdienender Instrumentenbauer, Kartograf und Landvermesser gewesen, der schon 1536 eine Familie gründen konnte.
Tatsächlich geriet Mercator 1544 in die Fänge der Inquisition. Seine Neugier, seine Lektüre und Korrespondenz hatte ihn der »Lutterey« verdächtig gemacht. Zudem wurde ihm auswärtige landvermesserische Arbeit als Flucht ausgelegt. Als er arglos in Rupelmonde die Erbschaft seines Onkels regeln wollte, nahm man in fest und steckte ihn in den Kerker. Ein halbes Jahr später kam er durch einflussreiche Gönner frei. Das war zweifellos eine bedrückende Erfahrung, aber von einer Flucht nach Duisburg kann keine Rede sein: Der Umzug, fast acht Jahre später, geschah in aller Ruhe; Mercator konnte sein Material mitnehmen und damit die Arbeit in Duisburg gleich fortsetzen.
Dass der Jülicher Herzog ihn für die geplante klevische Universität nach Duisburg geholt habe, ist für Krücken schon wegen der mutmaßlich fehlenden Qualifikation des »Studienabbrechers« Mercator unwahrscheinlich. Seine drei Jahre währende Lehrtätigkeit am 1559 gegründeten Gymnasium sei auch kein Ersatz und nicht mehr als ein Nebenberuf gewesen. Richtig sei wohl, dass Mercator die Toleranz in Duisburg der religiös beengenden Atmosphäre Löwens vorzog. Überdies habe er im akademischen Löwen weniger als Gelehrter denn als guter Handwerker gegolten – da konnte er sich in Duisburg besser profilieren.
Wo Mercator in den ersten 15 Duisburger Jahren wohnte, weiß man nicht. 1567 kaufte er einen großen Wohnsitz an der Oberstraße. Er war nun offensichtlich ein arrivierter Mann und »Aushängeschild« für die Stadt. Dass Mercator nie den Bürgereid geleistet habe, spricht nicht dagegen. Der Eid war für viele Bürger eine Last; dass man Mercator nicht damit behelligen und womöglich vertreiben wollte, ist also eine Auszeichnung. Als Gerhard Mercator 1594 starb, wurde er standesgemäß in der Salvatorkirche beigesetzt. Die war schon protestantisch. Im Sinne der Inquisition blieb Mercator also bis zum Schluss unzuverlässiger Freigeist.
Im Jahr nach Mercators Tod erschien seine gebundene Sammlung gleichartiger Karten zur Darstellung der Welt. Das war der erste Atlas, und auch diesen Namen verlieh Gerhard Mercator dem neuartigen Produkt. Dabei dachte er nicht an den Globusträger der Griechen, sondern an den sagenhaften mauretanischen König Atlas, nach Mercator ein weiser und astronomisch gelehrter Mann, der sogar den ersten Himmelsglobus gefertigt habe. Da die katholische Inquisition bald alle »kosmografischen« Betrachtungen Mercators über Gott und die Welt aus späteren Atlas-Auflagen tilgen ließ, geriet die Widmung bis 1993 in Vergessenheit, als Wilhelm Krücken und mehrere Lateinlehrer sie ins Deutsche übersetzten.
Da Mercators sachkundige Nachfahren bald nach ihm starben, verkaufte die Familie den kartografischen Nachlass an den Amsterdamer Verleger Hondius. Er machte den Atlas von 1606 an zum Welterfolg. Nach 1636 allerdings verschwand der Name Mercator aus den Atlanten. Die Kartografie entwickelte sich weiter; Mercator blieb der – zeitweise etwas diffuse – Ruhm, unser Weltbild geprägt zu haben. In Duisburg war er vergessen, bis sich Bildungsbürger 1871 seiner erinnerten, einen Mercator-Brunnen stifteten und die deutsche Mercator-Forschung begründeten. Das hinderte nicht, dass später Mercators Grab einer neuen Kirchenheizung geopfert und alle Überreste seines Hauses beseitigt wurden.
Wenn demnächst die Schule auf dem Grundstück abgerissen wird, können Archäologen nach Mercator-Hinterlassenschaften forschen. Aufmerksamkeit ist ihnen jetzt gewiss: Seit 1960 hat Duisburg sich neu auf seinen berühmten Immigranten besonnen. Dass die Stadt sich jetzt besonders auffällig in Mercators Ruhm sonnt, sehen Beobachter auch im Zusammenhang mit dem Desaster der Loveparade. Wie auch immer: Den Geburtstag feiert das Kultur- und Stadthistorische Museum mit Eröffnung seiner neu gestalteten »Mercator-Schatzkammer«. Die 34. (und mutmaßlich letzten) Duisburger »Akzente« wurden in den März vorverlegt, wegen Mercator: »Vom Suchen und Finden«. Am anderen Ende des Ruhrgebiets bietet zudem das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte eine Mercator-Ausstellung. Last not least feiert das Mercatormuseum Sint-Niklaas bei Rupelmonde den vor 500 Jahren geborenen Gheert de Cremere.
www.stadtmuseum-duisburg.de + www.duisburger-akzente.de + www.dortmund.de + musea.sint-niklaas.be