1960 erscheint Hitchcocks »Psycho«, 1961 Antonionis »La Notte«, 1963 Bergmans »Schweigen« und Godards »Verachtung«, 1964 Polanskis »Ekel« – auf die eine oder andere Weise Studien der Entfremdung, Einsamkeit, sexuellen Katastrophe, Sprachlosigkeit zwischen Mann und Frau. Jeder dieser Filme wäre eine Projektionsmöglichkeit: In den Godesberger Kammerspielen wird über den goldgerahmten Kamin im Wohnzimmer der Familie Helmer eine Szene aus »Das Schweigen« eingeblendet. Mit dem Menetekel an der Wand scheint alles sogleich entlarvt, selbst wenn man zunächst denken mochte: So lässt es sich leben, gediegen hell und großzügig zwischen skandinavischem Design und Braun-Stereoanlage (Bühne Manfred Blößer). Der Wandel vom Muff der 50er Jahre in die Rebellion der Sixties markiert die Bruchstelle, die Nora von ihrem Mann trennen wird. Die Situierung von Ibsens Ehedrama am Theater Bonn hat Logik und Teil an der Qualität der Inszenierung in atmosphärischer Dichte und physisch gespannter Aufladung. Klaus Weise, der vor 20 Jahren bereits in Düsseldorf »Nora« aus dem Puppenheim gehen ließ, hat die zeitnahe, »Pflegefälle der Gesellschaft« und andere Gegenwärtigkeiten geschmeidig integrierende Text-Fassung selbst erstellt.
The Lady is a Vamp in Gestalt der vorzüglichen Xenia Snagowski– ein bisschen Barbara Eden und Catherine Deneuve als verstörtes Mädchen Carol bei Polanski. Auch sie muss kotzen, wenn der erpresserische Krogstad übergriffig wird; doch versteht sie es ebenfalls, Dr. Ranks latente Fetisch-Neigungen zu bedienen. Nora hat Chic in ihrem St.Laurent-Mondrian-Modellkleid (Kostüme Fred Fenner), identifiziert sich mit ihrer Rolle als »Material Girl« und ist erfahren darin, »gut und günstig« einzukaufen und einen Teilzeitjob anzunehmen. Ein weiblicher Thomas Crown, wissend, wie sich etwas beschaffen lässt. Das Zwitschervögelchen ihres Helmer ist sie so gar nicht. Eher eine Enkelin der Lulu, ein Beatnik – Hysterikerin unter krasseren Bedingungen.
Helmer (Yorck Dippe) bleibt gegenüber dieser exakt erfassten Figur zurück – ein Problem vieler Ibsen-Inszenierungen, etwa auch der jüngst gefeierten Ostermeier-»Hedda« an der Berliner Schaubühne. Die Männer sind geistig im 19. Jahrhundert zurück geblieben und in ihren Moralvorstellungen und einer geschwätzigen, verschwitzten Virilität museale Relikte, da hilft auch Helmers Zusatzqualifikation wenig, die der Jurist sich in den Staaten verschafft hat. Die Frauen sind längst auf und davon. So auch hier nach einer ziemlichen Zimmerschlacht, wenn Nancy Sinatra wie zu Anfang ihr »Bang Bang« singt, Nora mit der Axt durch die Tür geht und Helmer sich erschießen will und es verpatzt. Davon versteht er also auch nichts.
Und noch einmal mit Musik, die 40 Jahre alt ist. Hedda Gablers Untergang begleitet Georges Delarues elegisches Leitmotiv aus Godards Moravia-Verfilmung »Le Mépris«, in der Brigitte Bardot den Gefühlsbetrug ihres Mannes Michel Piccoli mit Verachtung und dem Ende der Beziehung quittiert. Diese Hedda aber, am Theater Dortmund, ist sehr von heute. Beim Kokain geizt sie nicht und sorgt mit dem Stoff dafür, dass Ejlert Lövborg die Nase voll hat und seine Zunge sich für ein durchgeknalltes Kreativ-Solo löst. Ihr Luxus-Anspruch treibt die Mastercard-Abrechnung ihres Mannes Tesman in die Höhe. Wild tanzt Hedda in ihrem Haus, dessen Interieur sie richtig auf Touren bringt. Wie im Showroom eines Autosalons rotiert da der Prototyp eines Sportwagens, in dem die Figuren immer mal Platz nehmen, wenn sie die Szene zu verlassen haben, oder aber um von einer Kamera fixiert und als Großaufnahme projiziert zu werden. Birgit Unterweger als Hedda gibt sich cool wie Modesty Blaise, hat schnödes Phlegma, Herzenskälte und ist doch ein resigniertes armes, um Glanz und Glamour betrogenes Luder, das aus lauter Frust eine flirrende Disco-Kugel umherwirbelt, als wisse sie mit ihrer Kraft sonst nirgendwo hin. Auch die drei Männer, Tesman, Lövborg, Brack, sind endlich einmal keine Restbestände aus dem Ibsen-Fundus, sondern satisfaktionsfähige Zeitgenossen, die Baudrillard, Houellebecq und Sloterdijk nicht nur referieren, sondern deren Ideen modellhaft verkörpern.
So inszeniert Philipp Preuss einen elektrisierenden, fast schon kühn zu nennender Abend des abrupten Aus-der-Balance-Kippens, der kalkuliert konstruierten Entgleisungen und Arretierungen, der Identifi-kations-Blocker und Gefühlshemmer. Er ist dabei von theatraler Instinktsicherheit – trotz einiger alberner Mätzchen (das gelegentliche prononcierte Sprechen ins Mikrofon wäre ebenso entbehrlich wie eine Performance mit zwei E-Gitarren) – und krasser Unbekümmertheit. Er bringt das Drama auf den Punkt, der manchmal zum Ausrufezeichen auswächst und sich manchmal in einen Gedankenstrich hinein verlängert. Gemäß der komplexen Verhältnisse bietet das Ende keine Erlösung, mit der sich die überflüssige Frau aus der Welt schafft: Die Pistole klickt ins Leere. Hedda bleibt sich und den drei anderen erhalten. Zu viert bilden sie, unter identischen Perücken, einen Haushalt der lebenden Leichen. Hedda – kein Einzelfall, sondern ein kollektiver Zustand. »Imagine, there’s no heaven« – nur der diffuse Nebel der Gegenwart. AWI