Zwischen Fabel und Prosagedicht verortete Italo Calvino rückblickend selbst jenes Buch, das 1977, fünf Jahre, nachdem es in Italien unter dem Titel »Le città invisibili« herausgekommen war, seinen deutschen Lesern als »Roman« offeriert wurde. Einen Übersetzungsfehler wird man das kaum nennen können. Eher schon einen Kaufanreiz. Denn in oder auf der italienischen Ausgabe findet sich weder diese noch eine andere Bezeichnung, die den Besucher der unsichtbaren Städte mit einem Mindestmaß an wenigstens formaler Orientierung versorgen könnte. Zweifelhaft erscheint indes, ob diesem bei der Lektüre überhaupt mit der sauberen Einsortierung in die Schubladen der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie wirklich geholfen ist. Ganz im Gegenteil ist ein derartiger Fingerzeig eher dazu geeignet, ihn für die unübersehbare Schönheit dieser phantastischen Traumlandschaft unempfänglich zu machen.
Dabei scheint der Bauplan des Buches an Symmetrie und Ordnung doch gerade größtmögliche Übersichtlichkeit nahezulegen: neun Kapitel, deren erstes und letztes aus jeweils zehn, die restlichen aus jeweils fünf kurzen Beschreibungen erdachter Städte bestehen. Filigrane Konstruktionen, mit Tauen, Ketten und Stegen, über Schluchten gespannte Siedlungen, Häuser, die sich auf Stelzen über die Wolkengrenze erheben, andere sind gebaut aus Korallengestein, haben Tore aus Diamanten. Jede dieser Skizzen wird dabei wiederum einer von elf Kategorien zugeordnet, die etwa »Die Städte und die Erinnerung«, »Die Städte und der Wunsch« oder »Die fragilen Städte« benannt sind. Die Abfolge dieser Beschreibungen wiederum folgt einem komplizierten Rotationsverfahren. All das weist auf jene zum Stilprinzip erhobene formale Zwanghaftigkeit, mit der die Gruppe OuLiPo (L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle, Werkstatt für Potentielle Literatur) das literarische Ausdrucksregister seit den 60er Jahren zu erweitern sucht. Calvino selbst wurde 1973 Oulipien, ein Jahr nach dem Erscheinen von »Le città invisibili«.
Gerahmt werden die Beschreibungen durch die Begegnung zwischen Kublai Khan und Marco Polo. Das Reich des Mongolenherrschers ist im Niedergang begriffen. Allein in den erdachten Berichten des Venezianers vermag er durch »die zum Einsturz bestimmten Mauern und Türme hindurch das Filigran eines Musters zu erkennen«. Mit einem »Laderaum voller Bedauern« kehrt Marco Polo von seinen Reisen zurück, wird von Kublai Khan der Schmuggelei bezichtigt. Doch zielt der Vorwurf weniger auf die ihm vermeintlich vorenthaltenen materiellen Güter, als auf die »Gemütslagen, Gnadenzustände, Elegien«, die Marco Polo durch seine Erzählungen heimlich ins Reich einführt.
Für den Leser hingegen entfalten »Die unsichtbaren Städte« eine ganz eigene, zersetzende und zugleich betörende Kraft. Nicht allein wegen des Reichtums an selbstreferenziellen Verweisen, Zitaten und sich ausschlie-ßenden Kommentaren. Denn es ist weniger das theoretische Ranement Calvinos, das »Die unsichtbaren Städte« heute noch oder wieder so lesenswert macht. Anrührend ist die auf seltsame Weise heitere Melancholie, die den exotisch aufgeladenen Berichten Marco Polos von Anfang an beigemischt ist und die Virtuosität, mit der hier eine komplizierte Konstruktion zum Schweben gebracht wird.
Vielleicht, so mutmaßt Kublai Khan gegenüber Marco Polo, spiele sich ihr Gespräch zwischen zwei zerlumpten Bettlern ab, die eine Müllkippe durchwühlen, verrottete Eisenteile, Stofffetzen und Altpapier sammeln. Dieses Szenario gibt sich leicht als negative Utopie der Postmoderne zu erkennen. Italo Calvino hat, wie kaum ein anderer ihrer literarischen Vertreter, diese Abfallhalde der Geschichte für den Menschen einzurichten versucht und mit Märchenwäldern begrünt. Trotz der philosophischen Abstraktionskraft, die sich dabei noch im winzigsten Detail zu erkennen gibt, herrscht in seinen Erzählungen eine Warmherzigkeit, die man in den meisten der mit Leben, Lieben und Leiden auf einfachste Weise angefüllten Romane vergeblich suchen wird. Mit der nuancierteren Neuübersetzung der »Unsichtbaren Städte« von Burkhart Kroeber gibt es nun einmal wieder eine wunderbare Gelegenheit, Italo Calvino wenn nicht neu-, dann doch wieder zu entdecken. //
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, Hanser, München 2006, 176 S., 17,90 €